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Bildung des Menschen im Hinblick auf Natur und Tiere

Ich erlaube mir einen offenen Brief in Bezug auf diesen Beitrag über die Bildung zu schreiben: https://blog.bastian-barucker.de/bilden-oder-bilden-lassen/

Lieber Bastian Barucker,

ich kam auf Deinen Blog durch die Übersetzung des genialen Beitrags von Tim Foyle über die Verschwörungsleugner (https://blog.bastian-barucker.de/ueber-die-psychologie-des-verschwoerungsleugners/). Daraufhin ist mir der Beitrag „Bilden oder bilden lassen“ aufgefallen. Da es zur Zeit (wohl forciert durch Coronaagenda) recht große Bewegungen in der Bildungsvorstellung gibt und gewisse alte Trends als eine Abwehrreaktion auf den Digitalismus und die vergewaltigte Staats(un)bildung wieder „in“ werden, verfolge ich diese Tendenzen bereits eine längere Zeit. Ich selbst bin bereits eine Weile im Erziehungs- und Bildungsbereich angesiedelt und fühle mich der Gesellschaftskritik und einer Neudefinition des (geistgemäßen) Humanismus verpflichtet.

Die Trends, die ich meine, müssen bei Rousseau und seinem (polemisch ausgedrückt) Kulturhass und seiner Naturliebe gesucht werden. Später tauchen sie auf in der antiautoritären Bewegung der 70er und der daraus wachsenden Antipädagogik. Die heutigen Charaktäre wie Ricardo Leppe, Andre Stern und die Bewegung der Freilerner sind vielleicht die schillendsten aktuellen Beispiele dieser Entwicklung. Ausführlicher habe ich dazu hier geschrieben: https://sozialekunst.eu/2021/06/23/freilerner/

Die konkreten daraus resultierenden Ideen könnte man (etwas zugespitzt) folgendermaßen zusammenfassen:

  • ein Kind hat eine natürliche Intuition für die richtigen Lerninhalte, die es braucht (meist wie ein Tier)
  • ein Erwachsener kann und soll dem Kind keine Inhalte beibringen bzw. überstülpen, sondern lediglich das Kind bei seinen Vorhaben begleiten und ihm eine „natürliche Umgebung“ schaffen (was auch immer das bedeuten soll – in Rousseaus Konsequenz müsste diese Umgebung eigentlich recht rau und geradezu tierhaft sein – aber dazu weiter unten)
  • die Pädagogik und die entsprechende Methodik ist absurd, da sie vorgefertigte Inhalte an das Kind herantragen will

Berechtige Antipathie gegenüber bisheriger (Un)Bildung

Es findet ein gewisses Aufwachen gegenüber dem missbrauchenden (Un)Bildungssystem des Staates statt, welches auf eine systematische Bildungsreduktion und effiziente Verwaltung des Humankapitals zielt. Ich will also nicht Deine Aversionen gegen das vorhandene Bildungssystem und die oft nichtsnützigen Erwachsenen kritisieren. Denn diese Aversionen sind durchaus Symptome des Aufwachsens gegenüber der (Un)Bildung der letzten Jahrhunderte.

Es wird gewiss höchste Zeit, dass die Bildung von der Wirtschaft und dem Staat befreit wird und für sich stehen kann! Doch scheint es so, dass diese „antipädagogische Tendenz“, wie ich sie hier nennen will, als eine Art Dispositiv (eine gesellschaftliche Reaktion auf eine Notlage) zu deuten ist. Diese Trends entstehen aus der jahrzehntelangen Traumatisierung durch den Staat und die Wirtschaft als ein Affekt, ein Akt der instinktgesteuerten Verteidigung. Affektive Handlung ist aber selten differenziert und geistdurchdrungen (reflektiert) genug, um daraus sozial tragfähige Impulse entstehen zu lassen. Man springt eher von der einer Extreme in die andere und will das Kind mit dem Bade ausschütten.

Wie so oft ist in beinahe jeder Idee mindestens ein Körnchen Wahrheit zu finden. Doch wenn eine derart einseitige Idee sich zur Alleindeutung aufbläst, dann wird es höchste Zeit zur kritischen Betrachtung! Genau aus diesem Grund ist mir der genaue kritische Blick auf diese aufgewärmten Trends sehr wichtig.

Rousseau nicht ohne Kant

Kant (auch wenn ich erkenntnistheoretisch kein Fan von ihm bin) war bekanntermaßen ein „erzieherischer Gegenpart“ von Rousseau. Sein „Konzept“ aus Disziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung steht im Sinne des Tierhaften im Menschen, welches durchaus einer gewissen Zucht (oder auch Veredelung, Überwindung etc.) bedarf, damit das Menschliche sich erst entwickeln und sich ganz eigenständig moralisieren kann (diese Ebene war nicht als von außen initiierbar gemeint).

Bringt man Rousseau und Kant zusammen und behandelt sie nicht als sich gegenseitig ausschließende Faktoren, kommt man schon eher an ein differenziertes Bild menschlicher Entwicklung. Der eine war gegen die kulturelle Entwicklung (wohl geschockt von der missbrauchenden, indoktrinierenden Auswirkung der (Un)Kultur). Der andere war ein Gegner bloßer Naturentwicklung, in der er einen triebhaften, tierhaften (Un)Menschen gesehen hat.

Da der Mensch nun mal seinem Geist nach kein Tier ist (es sei denn, man ist ein Verfechter materialistischer und transhumanistischer Ideologie, die den menschlichen Geist – trotz einiger ungelöster Geist-Gehirn-Probleme – auf die Biomasse und die neuronale Netzwerke des Gehirns reduziert) kann er nicht der bloßen Natur zugeschrieben werden (dazu weiter unten mehr).

Novalis und die Natur

Das bloße „Natürliche“ ist den Menschen also in keinster Weise freundlich gesinnt. Novalis beschreibt diesen Gegensatz zwischen einer Natur, die für sich existiert und den Menschen, der erst in seiner und ihrer Veredelung die Natur begreifen kann, so wunderbar in „Die Lehrlinge zu Sais“:

„…Auch bleibe die Natur, so weit man käme, immer eine furchtbare Mühle des Todes : überall ungeheurer Umschwung, unauflösliche Wirbelkette, ein Reich der Gefräßigkeit, des tollsten Übermuts, eine unglücksschwangere Unermeßlichkeit; die wenigen lichten Punkte beleuchten nur eine desto grausendere Nacht, und Schrecken aller Art müßten jeden Beobachter zur Gefühllosigkeit ängstigen. Wie ein Heiland stehe dem armen Menschengeschlechte der Tod zur Seite, denn ohne Tod wäre der Wahnsinnigste am glücklichsten. Gerade jenes Streben nach Ergründung dieses riesenmäßigen Triebwerks sei schon ein Zug in die Tiefe, ein beginnender Schwindel: Denn jeder Reiz scheine ein wachsender Wirbel, der bald sich des Unglücklichen ganz bemächtige und ihn dann durch eine schreckenvolle Nacht mit sich fortreiße. Hier sei die listige Fallgrube des menschlichen Verstandes, den die Natur überall als ihren größten Feind zu vernichten suche. Heil der kindlichen Unwissenheit und Schuldlosigkeit der Menschen, welche sie die entsetzlichen Gefahren nicht gewahr werden ließe, die überall wie furchtbare Wetterwolken um ihre friedlichen Wohnsitze herlägen und jeden Augenblick über sie hereinzubrechen bereit wären. Nur innre Uneinigkeit der Naturkräfte habe die Menschen bis jetzo erhalten…

…Der Sinn der Welt ist die Vernunft: Um derentwillen ist sie da, und wenn sie erst der Kampfplatz einer kindlichen, aufblühenden Vernunft ist, so wird sie einst zum göttlichen Bilde ihrer Tätigkeit, zum Schauplatz einer wahren Kirche werden. Bis dahin ehre sie der Mensch, als Sinnbild seines Gemüts, das sich mit ihm in unbestimmbare Stufen veredelt. Wer also zur Kenntnis der Natur gelangen will, übe seinen sittlichen Sinn, handle und bilde dem edlen Kerne seines Innern gemäß, und wie von selbst wird die Natur sich vor ihm öffnen. Sittliches Handeln ist jener große und einzige Versuch, in welchem alle Rätsel der mannigfaltigsten Erscheinungen sich lösen. Wer ihn versteht und in strengen Gedankenfolgen ihn zu zerlegen weiß, ist ewiger Meister der Natur.“ (Staiger 1968, „Novalis – Gedichte – Romane“, S. 67-72)

Der Mensch ist ein Tier oder eine Pflanze?

Wer sich also auf das reine Natürliche im Sinne von ‚früher, im Wald war alles besser‘ bezieht, der romantisiert gerne die Natur und die Tiere (die nirgendwo für sich romantisch sind) und vergisst (wohl berechtigt durch die (Un)Kultur unserer Zeit) dass der Mensch eben KEIN bloßes Tier ist, wie Du es (wohl gewohnheitsmäßig) darstellst. Ein Tier ist instinktgesteuert in der Natur aufgehoben. Wenn die Bienen ihre ‚Häuser‘ bauen, so bauen sie nicht aus irgendeiner Überlegung heraus, sondern aus einer instinkthaften unbewussten Schwarmintelligenz. Diese Intelligenz hat mit dem Individuum nichts zu tun, außer dass das tierische Einzelwesen darin eingebettet ist. Der Mensch handelt aus seinem individuellen Geist heraus, er kann reflektieren, kann abstrakt Denken, kann planen und sich irren, er kann sich charakterlich veredeln oder dem Tier in sich nachgehen und lediglich dem Trieb und dem Überleben folgen. Dazu mehr in der PDF oder bei Soundcloud hier: https://sozialekunst.eu/zeitgeist/

Du schreibst darüber, dass die Tiere „wissen, wie das Leben in der Natur funktioniert“. Das ist aber ein klassischer Anthropomorphismus, also eine Vermenschlichung nicht menschlicher Zusammenhänge. Du dichtest dem Tier ein Wissen zu, welches bei dem Tier nicht beobachtet werden kann. Ein Tier erzählt Dir nicht die Zusammenhänge der Natur, es hat keine abstrakte Begriffssprache und kein Wissen, ein Tier lebt unmittelbar in der fortwährenden instinkthaften und triebhaften Selbstäußerung nach den Gesetzen der Natur… und das in einer recht perfekten Art und Weise. Es ist in der Natur perfekt eingebettet und es kann aus dieser unbewussten Synergie gerade aufgrund des fehlenden Selbstbewusstseins und somit auch Wissens nicht raus – daraus resultiert sich auch das perfekte Leben der Tiere und nicht aus irgendeiner vermenschlichten Wissensvorstellung.

Auch hier: „Denk an mein Beispiel mit dem leckeren Löwenzahn, der bereits weiß, wer er ist und dass er zum Wachsen nur ein passendes Umfeld braucht“. Nein, der Löwenzahn weiß gar nichts und deswegen funktioniert er auch so tadellos, weil er eben nichts weiß, sondern schlicht nach den Naturgesetzen wächst. Er kann nicht anders. Nur das unaufmerksame Denken bringt da diesen Anthropomorphismus hinein und dichtet dem Löwenzahn ein Selbstbewusstsein an, um es dann mit dem Menschen zu vergleichen.

Dann ist der Mensch eine zu verwaltende Biomasse!

Das Weltbild, welches da auf den Menschen übertragen wird, ist die Technokratie und der damit verbundene Transhumanismus. Dort soll der Mensch in der effizientesten Art, einem gezähmten Tier oder einer vor sich vegetierenden Pflanze gleich funktionieren. Die Effizienz der Algorithmen soll uns den besten Lebensweg vorgeben (siehe smart city: https://sozialekunst.eu/2021/06/18/amazon_sidewalk/). Individualität (wie auch bei dem Tier oder der Pflanze) zählt dort nichts mehr. Der freie Wille ist in dieser Ideologie ebenfalls nicht existent. Wer also den Menschen in rein materialistisch-ideologischer Art als Tier oder Pflanze betrachtet und darauf seine pädagogischen Vorstellungen aufbaut, muss ihn ganz konsequent aus dieser Ideologie heraus als eine mit größtmöglicher Effizienz zu verwaltende Biomasse betrachten und darauf weitere pädagogische Überlegungen bauen (die das Menschliche vollkommen verlassen und sich im Technischen wiederfinden!). Diese Gedankenkonsequenz wird leider in den romantisierenden Kreisen der Natur- und Tierliebhaber (Natur und Tiere sind ja liebenswert nur sind sie kein Vorbild für den Menschen) nicht vollbracht. Die Feststellung der Verwandschaft von der rein materialistischen Tier-Mensch-Ideologie mit den Idealen des Trans- und Posthumanismus (und ihren Konsequenzen für die menschliche Entwicklung!) müsste den Menschen eigentlich wie ein Schock treffen. Denn bei dem einseitigen sich Sehnen nach der Natur landet man als Mensch nicht in einer schönen naiven ’natürlichen Welt‘ von Rousseau, sondern in dem Abtreibungssaal posthumanistischer Zukunft. Die Konsequenz solcher Vorstellungen war Rousseau zu seiner Zeit gewiss nicht ersichtlich.

Romantisierung der Vergangenheit

„Die Kinder lebten mit den Erwachsenen im Dorf und spielten. Sie spielten sehr viel und am liebsten in einer Gruppe von Kindern“. Das ist eine sehr nette Romantisierung der Vergangenheit. Doch gerade Rousseau hat nicht aus der reinen Phantasie die sogenannte Kindheitsphase definiert und geprägt. Er wollte die Kinder von den Ansprüchen der erwachsenen Welt (zurecht) schützen. Die netten „Jäger und Sammler“ der heutigen Zeit werden einem, genau so wenig wie die netten Mittelaltermärkte, wohl kaum ein Bild der verdammt rauen (!) authentischen Vergangenheit geben. Man mag sich dabei auf die Studien zu Neandertalern beziehen, die besagen, dass die Kindheit gar nicht so rau gewesen sein muss (emotionale Bindung, Spielzeuge etc.). Das ‚pädagogische Umfeld“ der damaligen Zeit war das allerdings gewiss nicht. Der Blick auf andere Studien offenbart ein hoch aggressives und extrem sexualisiertes Verhalten. Was die damaligen Kinder alles erleben und arbeiten mussten ist für die heutige in diesem Sinne verweichlichte Vorstellung wahrscheinlich kaum zu ertragen. Zumindest ist es unsinnig die Vergangenheit in diesem romantischen Licht zu betrachten.

Der erwachsene Mensch ist schlecht, das Tier ist gut?

Die Frust über den erwachsenen Menschen ist im Hinblick auf unsere Geschichte durchaus verständlich. Doch entstehen auf der Frust, wie auch aus Affekten, keine differenzierten und reflektierten Gedanken, die das soziale Leben für seine Entfaltung braucht. Bei all dem quantitativen Übel unserer Gesellschaft übersieht man gerne die Qualität dessen, was den Menschen eigentlich ausmacht. Wenn man von einem ‚guten Tier‘ redet, so übersieht man auch dort den Anthropomorphismus. Ein Tier ist nicht gut und ist auch nicht übel. Ein Tier ist ein Tier und wenn es ein anderes Tier reißt unterliegt es der Natur seiner Instinkte. Das Üble oder das Gute kann sich nur im Menschen offenbaren, da nur der Mensch aus freien Beweggründen etwas tun oder unterlassen kann. Nur der Mensch kann aus Hass töten oder aus Mitgefühl schenken. Es soll damit nicht das Soziale den Tieren abgesprochen werden, denn dort geschieht es nach Instinkten, bei einem Menschen (wenn er denn wirklich auf menschliche Qualitäten zugreifen kann) geschieht es aus dem freien seelisch-geistigen Zusammenhang. Somit hat der Mensch die Freiheit sich fortwährend für eine üble oder eine gute Entwicklung zu entscheiden. Ethik und Moral ist also eine menschliche Qualität, die nicht nur im Sinne der katholischen Kirche dogmatisch von außen gegeben wird, sondern durchaus innerlich erlebt werden kann. Mit Tieren hat es nichts zu tun.

Wenn wir aber das Tier über den Menschen stellen, nur weil das Tier nicht übel sein kann und der Mensch in sehr vielen Fällen zum Üblen neigt, steuern wir genau dahin, wohin wir bereits die letzten 100 Jahre steuern – in die systematische Dehumanisierung, die uns allerdings gar nicht auffällt! Wir kritisieren den Menschen und schaffen ihn gleichzeitig ab. Wir schrecken vor den negativen menschlichen Qualitäten und Handlungen zurück und übersehen dabei, dass gerade DIESE moralisch-geistige Entscheidungsgewalt den Menschen zum Menschen macht. Nur weil die Masse der Menschen dem Guten nicht gerecht wird, heißt es nicht, dass der Mensch, als sich zum Guten oder Üblen entwickelndes halbwegs freies Wesen, seiner Entwicklung nicht wert ist.

Wenn Kleinkinder den Tisch beschmieren, Sachen zerstören und ihre Egozentrik ausleben, wird man da auf die Idee kommen alle Kinder als übel zu bezeichnen? Wohl eher nicht. Man würde ihnen einen Entwicklungsraum zugestehen, in dem sie wachsen können. Wohl in dem Wissen, dass in ihnen nicht nur Zerstörungswut und Egozentrik lebt. Ein erwachsener Mensch ist leider selten erwachsen geworden. Er ist meist nur alt. Man müsste sich also eher fragen, wie wir einem wirklichen Erwachsensein gerecht werden.

Lösungen?

Die Not ist groß, die Bildung steht zusammen mit dem Menschen am Abgrund. Gerade in solchen Zeiten wird der Druck nach Lösungen aufgebaut. Kritik ist nicht erwünscht. Konstruktive Beiträge sollen es sein. Man will schnell und fortwährend bauen, konstruieren (siehe die Punkte zu Kritik und Konstruktivität hier: https://sozialekunst.eu/2021/07/01/kritik/). Doch ohne den kritischen und scharfen Blick auf die Probleme unserer Zeit werden wir nicht den blinden Fleck der mittlerweile sehr weit fortgeschrittenen Dehumanisierung begreifen. Unsere Initiativen und Ideen werden also ganz unbewusst im Trend der Technokratie sein. Erst wenn wir den Abgrund, vor dem wir stehen, realisieren und gewillt sind das Menschliche (das konkret Seelisch-Geistige) wieder aufzugreifen, werden wir zu Ideen und Initiativen kommen, die einem neuen geistreichen Humanismus entspringen und der menschlichen Entwicklung gerecht werden!

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