Keine Kritik! Der Schrei nach Konstruktivität und Faktendogmatik bei heilsversprechenden Initiativen

Immer wieder gibt es große und kleine Initiativen, die sich auf die Fahnen schreiben: „Wir haben diese oder jene Erkenntnisse, die der ganzen Welt förderlich sind!“. Grundsätzlich ist darin kein Problem, auch der Autor dieses Artikels meint, solche Ideen zu haben. Probleme treten dann auf, wenn die Initiatoren 1. keine (sachliche) Kritik wünschen und diese unterbinden 2. dies mit fehlender Konstruktivität oder 3. mit der Kritiksucht der Kritikers begründen und 4. auffordern bei fehlender Zufriedenheit zu gehen. Es gibt natürlich auch Begründungen im Sinne einer „hohen Energie“ der Gruppe, die durch einen Kritiker gestört wird. Das sich Abschließen in „hohen Energien“, während man fanatisch und unkritisch einer Idee folgt, sollte eigentlich selbsterklärend sein. Man kann sich ja auch mit einer Handgranate einschließen. Aus diesen 4 Punkten werden zunehmend Sekten, die in einem möglichst abgeschotteten sozialen Raum fortwährende Selbstbeweihräucherung betreiben.

Außer sektenhaften Strukturen gibt es natürlich recht klassische politische Fanatismen, die sich jeglicher Kritik entziehen. So kann man in der aktuellen Zeit die Coronapolitikkritikverweigerer betrachten. Sie weisen dabei folgende auffallende Eigenheiten auf: A: Bezug auf ‚wissenschaftliche Fakten‘, B: Bezug auf seriöse Quellen (und Verschwörungstheoretiker auf der anderen Seite), C: Betonung der Solidarität (und Egozentrik auf der anderen Seite), D: Betonung der Toten und sonstiger Schreckensszenarien. Diese (gewiss nicht vollständigen) acht Punkte sollen hier analysiert werden:

  1. Die KRITIK hat in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg Geschichte gemacht! Etwas überspitzt gesagt: Das, was man heute gerne Verschwörungstheoretiker oder (eher moderner) Verschwörungsmythiker nennt, waren früher Soziologen (natürlich kann sich jetzt nicht jeder Spinner Soziologe nennen). Diese öffentlich vollkommen unbekannte Sparte der Wissenschaft – die Gesellschaftskritik – entwickelte sich aus dem Marxismus (den ich trotz seiner Berechtigung für eine soziologische Verirrung halte) und nahm Kurs auf die grundsätzliche Kritik an der Macht. Die daraus entstandene Elitenforschung und Machtstrukturanalyse ist keine Erfindung von ‚Aluhutträgern‘ oder ‚Antisemiten‘, sondern ein recht zentraler Inhalt der Soziologie. Auch ‚die Wissenschaft‘ wurde nicht im freien Feld des naiven Erkenntnisstrebens im Sinne von „Wir liefern euch klare Fakten!“ gelassen, sondern wurde durch den kritischen Zugang zur Wissenschaft (es gibt noch den hermeneutischen und den empirischen) in den (meist recht verlogenen, da interessensgeleiteten und manipulativen) gesellschaftlichen Kontext gestellt. Dieser Zugang zur Wissenschaft und zur gesellschaftlichen Betrachtung wurde zwar einige Jahrzehnte bunt diskutiert, aber beim Aufbau gesellschaftlicher Strukturen und im Bereich der öffentlichen Meinung nicht wirklich beachtet. Nachdem die Soziologie zunehmend zu einem Lieferanten für die effizientere wirtschaftliche Ausbeutung verkommen ist (Stichwort: Milieustudien, SINUS-Studien, Subjektzentriertheit, Konstruktivismus), verschwindet sie hinter den Türen von Universitäten und im Internet verschollenen Fachbüchern. Es ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass es diesen unglaublich wichtigen Beitrag zur reflektierten (und nicht schläfrig naiven) gesellschaftlichen Betrachtung gibt. Wer heute also von der Objektivität der Wissenschaft, von der Demokratie, von der freien Presse und so weiter redet, der ist (selbstverschuldet oder nicht) nicht mündig, aufgeklärt bzw. nicht gebildet. Zur Relativierung derart harter Aussage kann man aber hinzufügen, dass das staatliche (aber nicht nur) Bildungswesen keine Aufklärung und wirkliche Bildung betreibt, sondern in einer geschickten Weise lediglich für systematische Bildungsreduktion (Stichwort: dreigliedriges Schulsystem, Eliteschulen, Überqualifizierung), Selektion und Allokation (Verteilung) auf dem Arbeitsmarkt zuständig ist. Wie dem auch sei, Kritik ist also ein ganz essenzieller Bestandteil einer halbwegs aufgeklärten Gesellschaft und das Fehlen der Kritik deutet immer auf sehr besorgniserregende Zustände in Bezug auf die menschliche Entwicklung.
  2. Das Verlangen nach KONSTRUKTIVITÄT ist vor allem dort auffallend, wo man das bereits Konstruierte nicht antasten will. Man hat bereits eine Substanz und will sie erst dann kritisch anzweifeln, wenn einem etwas eindeutig Besseres präsentiert wird. Das Bessere soll also von außen an einen herangetragen werden, ansonsten hält man das Eigene weiterhin für das Bessere – eine recht naive Ansicht, wenn man bedenkt, dass man von einem Kreateur plötzlich zum Konsumenten wird. Hier konstruiert man selbst aus eigenen Ideen heraus, dort will man bessere Ideen konsumieren. Das praktische soziale Leben zeigt dabei meistens, dass kaum eine Idee als besser wahrgenommen wird, auch wenn sie einem tatsächlich präsentiert wird (es sei denn, man hat bereits selbst ordentliche Zweifel an der eigenen Idee). Der Hintergrund dieser Problematik ist – die Erkenntnis will selbst aktiv erfahren werden, ansonsten ist es keine Erkenntnis. Um eine reale Erkenntnis aus der Richtigkeit oder Fehlerhaftigkeit seiner Ideen zu schöpfen, muss man also das bereits Kreierte kritisch reflexiv betrachten. Erst daraus, durch den Umbau mancher Teile oder durch den gesamten Abriss des ‚Gebäudes‘ und seinen Neuaufbau entsteht eine reale eigene Erkenntnis mit entsprechend qualitativer Weiterentwicklung! Die eigentliche Konstruktivität liegt im reflexiven Dekonstruieren vorhandener Ideen, Handlungsgewohnheiten und Gedankenkonstrukte. Daraus konstruiert man selbst weitere, bessere Ideen und Handlungsimpulse. Wer also nur nach einer fortwährenden Konstruktivität schreit, verhält sich wie ein Kind, welches seine Sandburgen nie zerstören konnte, um neue aufzubauen!
  3. KRITIKSUCHT ist ein moralisches Argument, welches auf den Kritiker selbst zurückfällt. Doch dieses Argument ist lediglich dann angebracht, wenn die restlichen Punkte, also die eigene reflexive Haltung bereits gegeben ist. Denn auch wenn es um eine tatsächliche Kritiksucht eines Kritikers handeln kann, kann seine Kritik durchaus treffend sein. Die ‚Sorge‘ um den moralischen Zustand des Anderen über die Reflexion eigener Zusammenhänge zu stellen spricht also meist von der Verschleierung eigener Problematiken.
  4. ZUFRIEDENHEIT ist ebenfalls ein spannender Punkt. Die Häufung einer typischen Aussage wie: „Geh halt wo anders hin, wenn es dir hier nicht gefällt!“ offenbart eigentlich schon recht viel über die mehr oder weniger zentralen Absichten der Gruppe – die Gruppe trifft sich um Zufriedenheit zu generieren, um sich letztendlich selbst gegenseitig zu befriedigen. Bei solch einer Ausgangslage ist natürlich eine sachliche Auseinandersetzung nicht möglich, da eine Auseinandersetzung bereits das Harmoniebedürfnis der Gruppe stört.

Die Einwände eher politisch motivierter Akteure (auch wenn der Unwille zur Kritik natürlich auch hierher gehört und die Bereiche nicht strikt voneinander getrennt sind, denn Sekte ist immer einwenig Politik und Politik ist immer einwenig Sekte):

A. Die inflationär betonten (wissenschaftlichen) FAKTEN sind aus wissenschaftlicher Sicht geradezu ein bodenloser Unsinn! ‚Die Wissenschaft‘ hatte nie den Anspruch (weil sie es aus bisher ‚anerkannter‘ erkenntnistheoretischer Sicht schlicht nicht kann) objektiv in ihren Erklärungen und Deutungen zu sein (Stichwort: keine ’nackten Tatsachen‘, da sie erst erkannt werden müssen). Dabei vertrete ich übrigens nicht die Ansicht, dass es nicht möglich ist. Der Stand der empirischen Wissenschaft mit der positivistischen Prägung ist aber nun mal so, wie er ist. Es existieren (0)Hypothesen, ihre kritische Untersuchung und temporäre Bewährung (kein Beweis), die daraus entstehenden stützenden (man kann auch eine Leiche stützen) ad-hoc-Hypothesen und höchstens nach und nach Paradigmen. Das Ganze muss intersubjektiv nachvollziehbar sein. Auch die Schwerkraft ist also in ihrer Erklärung kein Fakt, sondern ein Paradigma. Von Fakten und realer Objektivität (auch wenn sie bei den Gütekriterien quantitativer Forschung auftaucht, ist sie dort lediglich im Sinne von ‚ungewollten‘ Einflüssen gemeint) ist nirgendwo die Rede. Wenn man den vorigen Abschnitt zur Gesellschaftskritik bedenkt (und sich mit dem Thema beschäftigt), wird man wissen, dass auch eine noch so gute wissenschaftliche Forschung nicht vom gesellschaftlichen Kontext (Interessen) befreit ist. Den sogenannten Begründungszusammenhang vom Entdeckungs- und Verwertungszusammenhang zu trennen ist meist die Krönung der wissenschaftlichen ‚Objektivität‘ (Stichwort: Postulat der Wertefreiheit), doch auch ihre größte Illusion (Stichwort: Finanzierung von Forschungsprojekten und Universitäten, Dominanz etablierter Fachzeitschriften, Besetzung der Lehrstühle, wirschaftlich-politische ‚Auftragsarbeit‘). Denn das Forschungsdesign einer wissenschaftlichen Arbeit hat recht viele Angriffspunkte, an denen man entsprechende Ergebnisse im Voraus liefern kann (Stichwort: Operationalistischer Zirkelschluss, Deutung statistischer Daten, präparierte Fragebögen, vorausgewählte Stichprobe). Natürlich meint man gegen all diese Probleme mit dem Anspruch der größtmöglichen Transparenz und Nachvollziehbarkeit jeder wissenschaftlichen Arbeit anzukommen, doch diese ‚Transparenz und Nachvollziehbarkeit‘ kann in den meisten Fällen sogar ein Wissenschaftler schwer nachvollziehen (geschweige denn ein Laie). Es gehört also eine ordentliche Portion naives Grundvertrauen in die wirtschaftlich-politisch geleitete Wissenschaft. Die bisherige Literatur zu entsprechenden Zusammenhängen kann dieser Naivität zumindest keinen sachlichen Boden geben. Wenn man den Begriff Verschwörungstheoretiker gerne gebraucht, so kann man auch durchaus den Begriff Verschwörungsleugner durchdenken. Interessant ist auch der von Thomas Kuhn beschriebene Zusammenhang, dass ‚die Wissenschaft‘ ihre Paradigmenwechsel nach den Regeln einer Revolution und nicht nach rationalen Regeln irgendeiner Erkenntnis gestaltet (Stichwort: Eroberung der Lehrstühle und Fachzeitschriften; Schulbücher). Es besteht hier also eine Verschränkung verwertbarer Wahrheitsansprüche und Macht.

B. SERIÖSE QUELLEN (samt den Faktencheckern) können ebenfalls nur müde belächelt werden. Wer sich mit der Medienkompetenz beschäftigt hat, der weiß ganz gewiss, dass es nicht darum geht, an die ‚richtigen Quellen‘ zu kommen, sondern alle möglichen Quellen ihrem Inhalt nach so miteinander und gegeneinander zu vergleichen, dass daraus eine möglichst ausgewogene Urteilsgrundlage geschaffen werden kann. Bestimmten Quellen zu vertrauen bedeutet entweder eine nahezu okkulte Einsicht in die Weltzusammenhänge oder eine naive Dogmatik. Alle Quellen haben entsprechende Interessen. Wenn man Russia Today (RT) russische Staatsinteressen ankreidet, dann müsste man die Tragweite dessen begreifen, dass das Gleiche auch für ARD und ZDF gilt. Wenn man von ‚guten und schlechten‘ Interessen redet, dann hält man natürlich die eigenen für gut und die anderen für schlecht. Dass man dabei einer kindlichen Naivität unterliegt, ist an sich nicht der Rede wert. Den ersten beiden Punkten konnte man also, grob gesagt, mit dem kritischen Gesellschaftsblick begegnen.

C. SOLIDARITÄT war (und ist) ein unglaublich starker wohl eher kommunistisch geprägter Begriff. Damit kann man Massen zur Bewegung bringen, ohne einer kritischen inhaltlichen Auseinandersetzung. Die Gefühlsebene kommt in Wallung, der Einzelne fühlt sich für die Masse verantwortlich (natürlich im besten Sinne!). Plötzlich können auch Menschen, die sonst recht antisozial waren, sich sehr sozial vorkommen. Wer will da schon nicht solidarisch sein? Und schon bekommt ‚solidarisch‚ einen ‚arischen‘ herdenartigen Anschlag – Die Herdenimmunität will man nicht, obwohl man eine Herde geworden ist (kleiner Witz am Rande) – Die ‚richtige‘ Mehrheit ist gegen die ‚unrichtige‘ Minderheit. Der Begriff der Solidarität (nicht im eigentlichen Sinne, aber instrumentalisiert) gehört also zu den sogenannten totalitären Hilfskonstrukten (hier mit einer positiven Verstärkung), die jegliches Nachdenken und jegliche kritische Auseinandersetzung im Keime erschlagen wollen (Stichwort: Verschwörungstheoretiker, Leugner, Verweigerer, Versteher, Verharmloser, Relativierer).

D. TOTE (und Schreckensszenarien) waren und sind schon immer sehr eindrucksvoll, wenn man drastische politische Entscheidungen legitimieren will. Wer will schon Kritik an Toten? „Sind dir die Toten egal?!“ ist wohl das beste ‚Argument‘ gegen jeglichen Einwand! Doch Tote sind in diesem Zusammenhang recht abstrakte Objekte, die aber für sehr konkrete und eindeutige Tatsachen verkauft werden. Im anderen Zusammenhang mögen sie vorerst sehr konkret sein, doch die Umstände ihres Todes sind meist sehr komplex und einer kritischen Untersuchung würdig. Um so auffallender wird der Gebrauch solch einer Betonung, wenn Fragen nicht willkommen sind, wenn die bloße Erwähnung der Toten jegliche Fragen verbietet. Will man die Toten aber konkreter greifen, so müsste man genauer hinschauen (Stichwort: wer, wann, warum bzw. an was) und schon könnte man eventuell hier und dort feststellen, dass es gar keinen derartigen Zusammenschluss der Toten gibt, die für einen im Chor argumentieren sollen. Der ’statistische Tote‘ ist keine Tatsache, sondern ein Konstrukt aus recht vielen Faktoren (Stichwort: an oder mit, Invasivbeatmung, Medikamentierung, Operationalisierung), die ihn zu dem machen, was er sein soll und eventuell gar nicht ist. Wenn aus Toten dann Kranke, aus Kranken Infizierte und aus Infizierten Testpositive werden, mit denen man politische Verstärkung holt, während beinahe alle mit der gleichen gefühlten Panik und einem ausgeprägten Kritikhass umherwandeln, dann kann man sich durchaus fragen, ob wir uns nicht bereits in einer Massenpsychose befinden.

Hier ein ehemaliger Beitrag über die Toten: https://sozialekunst.eu/2021/06/22/intensivbetten/

Greifbarer wird das Alles, wenn man sich diese Punkte als eine lebendige konkrete Einheit vor den Geist hält:

Überzeugt, konstruktiv und zufrieden, mit Fakten und seriösen Quellen bewaffnet geht man solidarisch die Welt vor noch mehr Toten retten. Ersetzt man dabei die Toten mit ‚durch die Coronapolitik gefährdeten Kindern‘ schon kann man auch auf der anderen Seite marschieren. Die Frage ist dabei, ob man denn unbedingt auf dieser oder jener Seite marschieren will oder doch auf beiden Seiten genauer nachzudenken beginnt, um das Spiel mit den Seiten zu durchbrechen. Kritik ohne Sucht gehört zum Denken. Das Denken befreit!

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