Erziehung und Bildung?
Wohin zieht man die jungen Menschen? Sollen sie nicht selber laufen? Wenn es schon „das kompetente Baby“ und Demokratie an KiTas gibt, ist doch alles ganz einfach. Je früher alle alles lernen, desto besser! Am besten als Frei- und Selbstlerner zu lebenspraktischen Fähigkeiten. Wer braucht schon Goethe und praxisferne Mathematik, wenn es YouTube mit ultraeffizienten Lerntipps gibt? Schnell zum Wesentlichen!
Aber was soll das Wesentliche sein? Die Freizeit nach einem möglichst effizienten und schnellen Lernprozess? Das irgendwie geartete Soziale? Oder doch die gute alte Allokation auf dem Arbeitsmarkt?
Warum rede ich von Bildung, wenn es doch um Erziehung geht? Sucht man nach dem Begriff „Bildungsansätze“ in der Suchmaschine seiner Wahl. Kommen KiTas, Kindergärten und Ansätze für Kinder zwischen 0 und 10 Jahren. Erziehung ist out, Bildung ist in! Kindliche Akteurschaft und Frühförderung sind in aller Munde, zumindest in Fachkreisen. Wenn Rousseau noch für das Freikämpfen der Kindheitsphase als solcher gekämpft hat und Erikson das Jugendmoratorium betonte, so will die postmoderne aufgeklärte Gesellschaft alle zu kleinen und großen Erwachsenen machen. Entwicklungsstufen sind überholt. Der Unterschied besteht nur in den zurückgelegten Jahren auf der Biografieskala.
Kann man bei dieser die Biomasse verwaltenden Humankapital-Maschine mit ihrer Sicht auf den Menschen noch von Erziehung reden? Nein! Aber gewiss auch nicht von Bildung. Wenn die Erziehung als etwas autoritär bösartiges abgeschafft wurde, so wurde die Bildung schlicht besetzt. Wir brauchen also kulturwissenschaftliche, geisteswissenschaftliche oder wie auch immer geartete Exorzisten, um aus der Bildung das herauszutreiben, was gar nicht ihrem Wesen entspricht.
Erziehung und Bildung haben eine lange Geschichte hinter sich, die man im alten Griechenland anfangen kann zu verfolgen. Von paideia zu humanitas über imago dei, imago homo und letztendlich zum von dem pseudoneutralen Propagandisten des Transhumanismus Juval Noah Harari, zu homo deus, der posthumanistischen Menschenleiche die pathologische Hoffnungen an ihr Weiterleben in einer Maschine hegt. Der Anfang und das Ende von Erziehung und Bildung wurden hiermit ausschöpfend behandelt. Der Mensch ist nicht mehr! Er will auch nicht mehr.
Doch in diesem knappen Umriss der Bildungsgeschichte versteckt sich ein verlorener Schlüssel aus diesem Dilemma (falls es doch noch Menschen gibt, die noch wollen). Es ist der imago homo. Es ist eine Erziehung und Bildung, die nicht den Menschen für einen Zweck präpariert, sondern seine ganze seelisch-geistige ‚Natur‘ offenbaren will. Ja, seine seelisch-geistige (!), zu der der Körper nun mal dazugehört. Nicht seine tierische, chemische, elektrische, ökonomische, staatliche und sonstige Natur, sondern eben seelisch-geistige. Es ist der homo absconditus, der uns so viel Schwierigkeiten bereitet und doch den eigentlichen verschleierten, unbekannten Menschen ausmacht, der wir im Begriff sind zu werden (oder auch nicht). Und wahre Bildung geschieht in dem feinen Prozess des unterbrochenen Reiz-Reaktionsmusters, nicht in der output- oder input-orientierten Verzweckung.
W. v. Humboldt war wohl der berühmteste Vertreter von imago homo, von dem Willen die menschliche Bildung zum Selbstzweck zu erklären. Der Rest, die Ausbildung, Kompetenzen und Co., sind dann nur ein (ja, durchaus wichtiges) Nebenprodukt dieser Bildungsvorstellung. Sein Humboldtsches Bildungsideal ist bereits in seinem Entstehen kläglich, aber umfangreich gescheitert. Arbeitsschulen, Realschulen, Gymnasien und Universitäten, die von Humboldt höchstens noch die ‚alten Sprachen‘ und Literatur mitgenommen haben, waren für die Industrie, die Wirtschaft und die antimenschliche Ideologie natürlich näher. NS-Schock, Sputnik-Schock, PISA-Schock – die aufgeklärte und fortschrittliche Gesellschaft kam gar nicht mehr aus dem Schockzustand heraus. Ich vermute allerdings, dass sie spätestens beim ersten Schock umgefallen ist und seit dem schläft. PISA-Schock war kein Schock, sondern eher ein Zombi-artiges Aufzucken einer lang dehumanisierten Gesellschaft und enstprechender (Un)Bildungsvorstellung. Denn nach dem ‚Schock‘ verunstaltete man Bildung in einem noch drastischeren Maße. Diejenigen, die halbwegs wach waren, leben bereits in der berühmten Zombiapokalypse.
Wenn man der Bildung ihre Dämonen in einem noch weiteren Verständnis als die „Dämonie des Technischen“ austreiben müsste, dann müsste Erziehung von den Toten zurück geholt werden. Denn Ziehen ist doch geradezu eine Vergewaltigung in einem Zeitalter „kompetenter Babies“. Die wissen doch alle selbst wohin! Dass eine ganze Medien- und Wirtschaftsindustrie, die von einem pseudodemokratischen Politschauspiel begleitet und legitimiert wird, die Kinder von morgens bis abends an den Haaren zieht, das sieht man gar nicht mehr. Das will man auch nicht sehen. Das ist quasi „alternativlos“. Dieser Zug ist der gute (weil Gott gegeben?) Zug des Fortschritts.
Was werden derart manipulierte und durchgeformte Kinder als Akteure wohl wollen? Wohin wird die „kindliche Akteurschaft“, wohin die schreiende, schmierende, klebende und von ihrer selbst kreierten Erkenntnis überzeugte Jugend gehen? Welchen Narrativen werden sie folgen, wenn der große Philanthrop Klaus Schwab die Zügel nicht mehr bei den Politikern und Unternehmern, sondern bei den Aktivisten sieht? Wurden sie nicht gezogen? So ganz von selbst Greta geworden?
Es ist also nichts Schlechtes an der Erziehung und am Begriff der Erziehung selbst. Es ist ganz natürlich, dass ein Mensch ab seiner Geburt vorerst eine längere Zeit der Orientierung bedarf. Er ist kein Tier, welches mit angeborenen Anlagen auf die Welt kommt und diese innerhalb von Stunden, Tagen entfaltet, um sie in einem Naturzwang auszuleben.
Die Frage ist also wie so oft die der Intensität, Intention und der Dauer. Wer zieht, wie stark, wohin und wie lang?
Wenn Erwachsene wie Kinder gezogen werden (man nennt es Nudging), um sie zu entsprechenden medial-politischen oder Sekten-ideologischen Entscheidungen zu drängen, ist es nicht in Ordnung. Doch wenn ein Kleinkind nachahmungswürdige Erwachsene um sich hat, ein Schulkind begeisterte, herzliche und fähige Lehrer, zu denen es aufschauen kann und ein Jugendlicher gebildete und vollwertige Menschen zur Reibung und Diskussion erlebt, dann ist es heilsam, dann entsteht auch ein sanfter Zug zum Menschlichen, dann ist es eine Erziehung, die wir dringend zurück von den Toten brauchen!
Die jungen Menschen brauchen Persönlichkeiten und Individualitäten, die etwas von der Menschwerdung begreifen, Persönlichkeiten, die sich selbst bilden und eine real werdende Menschlichkeit ausstrahlen. Demnach müssen wir Erwachsene nicht den völlig unverstandenen Menschen im Transhumanismus ‚erweitern‘ und im Posthumanismus hinter sich lassen, sondern überhaupt erst finden.
Arbeiten aus dem Studium der Bildungswissenschaften:
Bildung unter dem Zwang der Ökonomisierung
Der Kompetenzdiskurs innerhalb der beruflichen Bildung als Verstärkung der Bildungsungleichheit
Kindliche Akteurschaft
Zwischen Instrumentalisierung und Befreiung der Kindheit
Artikel zur aktuellen Bildungs- und Erziehungsproblematik:
Blog
Beiträge, die mit dem Thema Erziehung und Bildung unmittelbar zu tun haben.
