Eine wissenschaftliche Arbeit über die Diskrepanz des Agency-Konzepts (Akteurschaft, Handlungsfähigkeit, agency of children) in Bezug auf seinen Anspruch die Kindheit vom einengenden erwachsenen Einfluss zu befreien und seine Instrumentalisierung innerhalb der neoliberalen Ideologie.
Kindliche-Akteurschaft – Zwischen Instrumentalisierung und Befreiung der Kindheit (https://sozialekunst.eu/Kindliche-Akteurschaft_zwischen-Instrumentalisierung-und-Befreiung-der-Kindheit_Kavaliou2022.pdf)
Aus dem Inhalt:
Das Interesse der Soziologie an Kindern galt vor den 1990er-Jahren weitgehend ihrer Sozialisation und dem familiären Umfeld. Die empirische Sozialisationsforschung untersuchte vor allem die schulischen Leistungen im Kontext der Weitergabe gesellschaftlicher Positionen. Die innere Welt der Kinder besaß bis dahin kaum Relevanz (vgl. Bühler-Niederberger 2020, S. 10). Blickt man noch weiter zurück, kann die kindliche Realität vor dem Beginn der Neuzeit unter Vorbehalt als “grausam“ beschrieben werden. Doch auch wenn die Neuzeit deutliche ideelle Tendenzen zur Aufwertung der Sicht auf die Kinder verzeichnete, blieb ihr Alltag auch im 18. und 19. Jahrhundert weitgehend gewaltvoll und hart. Diese Umstände können in einer abgeschwächten, aber doch statistisch signifikanten Form bis zur Gegenwart verfolgt werden (vgl. Bühler-Niederberger 2021, S. 21-24). Bühler-Niederberger beschreibt in diesem Kontext die gesonderte Stellung der Kinder, die sie als „eine besonders gering bewertete Bevölkerungsgruppe“ (Bühler-Niederberger 2021, S. 16) darstellt.
Etwas widersprüchlich in Bezug auf die Wertstellung erscheint dagegen die Darstellung nationalstaatlicher Instrumentalisierung der Kinder im 19. Jahrhundert und dem eher damit verbundenen Schutz dieser, die brauchbare StaatsbürgerInnen im Sinne führte (vgl. a.a.O., S. 24 f.). Die Kinder scheinen hier also nicht besonders gering bewertet, sondern ganz im Gegenteil eine in vieler Hinsicht wertvolle nationalstaatliche Anlage zu sein. Die Darstellung des internationalen Einsatzes für die Kinder im 20. Jahrhundert, welcher von Bühler-Niederberger (vgl. a.a.O., S.26 ff.) als ein positiver Paradigmenwechsel im Vergleich zu bisherigen nationalstaatlichen Interessen beschrieben wird, kann somit auch als eine konsequente Umsetzung bisheriger Instrumentalisierungsabsichten auf transnationaler, global-gesellschaftlicher Ebene und als eine Delegitimierung staatlicher Erziehungs- und Bildungsvorstellungen gedeutet werden. Es ist zumindest nicht ersichtlich, warum Organisationen mit internationalen Interessen ihre Sorgen um die Kinder nicht wie die Nationalsaaten ebenfalls im Sinne ihrer wirtschaftlicher, politischer oder auch ideologischer Absichten umsetzen sollen. Die vier von Bühler-Niederberger genannten Unterschiede zu der bisher gescheiterten Politik der Nationalstaaten (vgl. a.a.O., S. 26-28) könnten also durchaus auch einer globalisierten neoliberalen Interessens- und Regelungstendenz entsprechen. Diese als positiv dargestellten internationalen Bemühungen und ebenfalls positiv konnotierte Beispiel der PISA-Studien (vgl. a.a.O., S. 28), die aufgrund ihrer Normierung, Kompetenzorientierung und überstaatlicher Macht recht erfolglos, aber dennoch massiv in die Kritik geraten sind (vgl. Brand 2010, S. 5 ; Kissling/Klein 2010, S. 1-5; Krautz 2016, S. 63-70), erweckt den Bedarf an einer nötigen kritischen Betrachtung dieser Zusammenhänge.
Aus diesen internationalen Bemühungen um eine geschützte und anfänglich selbstbestimmte gesellschaftliche Stellung der Kinder – die man mit der Verabschiedung von World Child Welfare auf das Jahr 1924 datieren kann (vgl. Bühler-Niederberger 2021, S. 27) – entstanden durch das zunehmende wissenschaftliche Interesse an ihrer subjektiven Welt die Childhood Studies und die zunehmende Etablierung der Ansicht kindlicher Akteurschaft – Kinder seien zentrale und handlungsfähige Mitkonstrukteure ihrer Lebenswelt (vgl. Andresen/Hurrelmann 2010, S. 64 f.; Betz/Eßer 2016, S. 301 f.; Bollig 2020, S. 21 ff.; Bühler-Niederberger 2020, S. 196-200; Joos et al., S. 8; Müller-Giebeler 2015, S. 1). Doch wie Kluge (vgl. Kluge 2021, S. 175) treffend darstellt, ist das darauf beruhende Konzept nur dann differenziert genug dargestellt, wenn es die Handlungsfähigkeit der Kinder in einem Netz aus verschiedenen Interessen begreift. Als einen solchen Kontext erwähnt er die ökonomische Marktlogik. Die Vielzahl an kritischen Fragestellungen, die das wissenschaftliche Umfeld der Kindheitsforschung aktuell beschäftigt und die von Kluge als eine „Irritation der Kindheitsforschung über sich selbst“ (Kluge 2021, S. 5) bezeichnet wurde, betrifft zwar vor allem ihre Ausrichtung, Einheitlichkeit, theoretische Untermauerung und ihr grundsätzliches Fortbestehen (vgl. a.a.O., S. 3-9), doch auch die Frage nach einer neoliberalen Instrumentalisierung dieser Forschungsrichtung und der damit verbundenen Lebensphase bedarf einer genaueren Untersuchung. Mit Neoliberalismus soll eine gesellschaftliche Bewegung gemeint sein, welche das Individuum, wie auch den Markt vom staatlichen Einfluss befreien will, indem politische Deregulierung, Etablierung sozialer Hierarchien und die Maxime “jeder ist des eigenen Glückes Schmied“ zum Leitziel gesellschaftlicher Gestaltung erhoben werden (vgl. Brand 2010, S. 3).
Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit gründet demnach auf der Tradition der Gesellschaftskritik, die man als eine Notwendigkeit kritischer Betrachtung tragender und öffentlichkeitswirksamer Organisationen und ihrer Trends in Bezug auf ihre ethische und vernunft- oder unvernunftbasierte Inhalte beschreiben kann (vgl. Ritsert S. 49 f., 63). Hieraus ergibt sich folgende Forschungsfrage: Inwiefern trägt das Konzept der kindlichen Akteurschaft und seine Förderung zur neoliberalen Instrumentalisierung der Kindheit bei?
Der erste Teil der Arbeit beinhaltet die Darstellung des Konzepts der kindlichen Akteurschaft und seiner geschichtlichen Entwicklung mit dem aktuellen Forschungsstand. Imzweiten Teil werden zwei Studien mit unterschiedlichen Schwerpunkten aus dem Bereich der Akteurschaft vorgestellt. Der dritte Teil widmet sich der Diskussion der Forschungsresultate unter Einbezug neoliberaler Bestrebungen. Der Abschlussteil dient der Verknüpfung zur gestellten Forschungsfrage und ihrer bildungswissenschaftlichen Relevanz im Rahmen der Kinder- und Jugendforschung, einer daraus folgenden kurzen Zusammenfassung der Ergebnisse und Ansätzen für die weitere Forschungsnotwendigkeit.