„Psychologie des Totalitarismus“ – M. Desmet

Der angekündigte Beitrag zur Erkenntnistheorie muss noch warten. Es ist mir ein weiteres sehr bezeichnendes Buch unserer Gegenwart in die Hände gekommen: „Die Psychologie des Totalitarismus“ von Mattias Desmet. Dieses Buch ist aus meiner Sicht die bisher (mir bekannte) treffendste Analyse der Gegenwartsproblematik. An seiner Uni in Gent wurde das Buch verboten (https://mattiasdesmet.substack.com/p/the-psychology-of-totalitarianism-70c). Allein das war der Grund dieses Buch als Pflichtlektüre zu sehen. Es dient hier als das dritte Beispiel der Problematik unserer Zeit. Die ersten zwei Beispiele sind hier zu finden: https://sozialekunst.eu/2023/02/

Ich muss allerdings betonen, dass ich den Versuch von Mattias Desmet das Gesellschaftsproblem zu fassen nicht einmal in die Nähe von Ulrikes Herrmans „Das Ende des Kapitalismus“ oder dem „Erschöpften Gehirn“ von Michael Nehls stelle. Herrmann verherrlicht einen staatlichen Totalitarismus, den sie sehr gekonnt zu verniedlichen und als solchen zu verschleiern weiß (wahrscheinlich eher affektiv im Strom der Zeit). Nehls kommt an das komplexe Gesellschaftsproblem deutlich näher heran, doch auch er folgt ebenfalls dem Strom der Zeit, indem er seine Gedanken vom kybernetischen/transhumanistischen Narrativ leiten lässt (wohl ebenfalls eher affektiv) und die entscheidende Folgerichtigkeit unserer Zeit nicht erkennt (Kybernetik -> Fremdverwaltung von Menschenmassen und Gleichstellung mit Tieren). Desmet wagt es die Machtzentren mit ihren Narrativen direkt anzugehen und was noch deutlich spannender ist, er entdeckt den Grund für die Gesellschaftsproblematik in dem mechanistischen Weltbild (wie auch Hannah Arendt, auf die er sich mehrmals bezieht). Was aus meiner Sicht das eigentliche und das größte Problem unserer Gegenwart ist. Alles andere ist lediglich die Folgerichtigkeit dieser materialistisch-mechanistischen Logik, welche als solche selten erkannt wird. Doch auch Desmet folgt leider affektiv dem Strom unserer Zeit, obwohl er recht massiv gegen ihn auftritt.

Selbstverständlichkeit heutiger ideologischer Hörigkeit

Bereits während dem Lesen der Einleitung musste ich mich selbst bei sehr bemerkenswerten Gedanken ertappen. Die direkte Art von Desmet, in der er die aktuelle Politideologie des Coronaregimes beschreibt, ist vor allem für einen wissenschaftlichen Kontext aufstoßend. Sofort dachte ich: dies und das hätte man mit milderen Begriffen umschreiben können. Manches hätte man vielleicht sogar in der Form auslassen können, weil es doch zu arg anstößt und keine sachliche Diskussion (auch im wissenschaftlichen Gebiet) darüber mehr möglich ist. Und schon musste ich vor diesen Gedanken aufschrecken. Wenn heute jemand schreibt: „Es fand auch ein regelrechter Machtwechsel statt. Virologen-Experten wurden wie die orwellschen Schweine – die schlausten Tiere des Bauernhofs – aufgefordert, die unzuverlässigen Menschen-Politiker zu ersetzen“ (Desmet, Die Psychologie des Totalitarismus, S. 13), dann will man sofort schreien: Verschwörungstheoretiker, Demokratiefeind, Delegetimierer des Staates! So etwas geht nicht! Man kann doch nicht so etwas schreiben! Es ist zu krass, zu direkt, zu roh!

Doch was steckt hinter diesem „es geht doch nicht!“? Nichts anderes als die Selbstverständlichkeit heutiger ideologischer Hörigkeit. Das „Gehäuse der Hörigkeit“ von Max Weber ist nicht nur innerhalb kapitalistischer Ideologien wirksam. Es breitet sich überall dort aus, wo eine Selbstverständlichkeit einseitiger Denkstrukturen vorherrscht, die alle anderen Denkrichtungen ausrotten will.

Schichten ideologischer Desensibilisierung

Diese selbstverständliche Hörigkeit, die uns als solche kaum mehr auffällt und auf die so einige sogar stolz sind, basiert auf einer Desensibilisierung. Erzwingt man medial und politisch lange genug bestimmte Narrative, werden sie einem immer normaler erscheinen. Der ideologische Begriff der „neuen Normalität“, welcher in der Coronazeit etabliert worden ist, bringt genau dies zu Ausdruck. Das ideologisch etablierte Neue soll innerhalb einer bestimmten Agenda (in dem Fall transhumanistischer Hygienismus) zur Normalität werden.

Doch solche neue Normalitäten sind nicht erst seit dem Coronaregime da. Sie betreffen extrem viele Themengebiete und sind teilweise sehr alt. Manche sind so alt (wie die Normalität des mechanistischen Materialismus), dass sie uns lang nicht mehr als neu, sondern als die Normalität selbst erscheinen. An solch einem Punkt kann die zweite Schicht ideologischer Desensibilisierung eintreten, an der man die nächste neue Normalität auf die mittlerweile etablierte (die mal ebenfalls ’neu‘ war) baut. Am Beispiel des mechanistischen Materialismus wäre die zweite Schicht die Etablierung des Transhumanismus, die noch mitten in der Arbeitsphase gesellschaftlicher Akzeptanz liegt. Es wird also noch etwas (nicht viel) Zeit brauchen, bis die weiten Teile der Gesellschaft den Transhumanismus als die neue Normalität anerkennen. Schicht um Schicht, ganz im Sinne der Salamitaktik, wird es um so schwieriger, die eigentliche ideologische Manipulation zu entdecken und zu den dahinterliegenden sachlichen Inhalten zu gelangen. Doch zurück zum Buch.

„Wissenschaft und ihre psychologischen Auswirkungen“

In dem ersten Teil des Buches beschreibt Desmet sehr treffend, in welcher Art das wissenschaftliche Streben von einer mechanistisch-materialistischen Ideologie geprägt wurde und weiterhin wird. Innerhalb dieser Ideologie existiert kein wirkliches Leben, alles ist eine sinnlose mechanistische Abfolge zufälliger Vorkommnisse. Die nötige Willensausrichtung einer Evolution wird negiert, die Evolution selbst aber für real erklärt. Die daraus hervortretende Gesellschaft erkennt zwar einen Placebo- und Noceboeffekt, negiert aber die Wirklichkeit der Psyche. Trotz dieser wissenschaftlich-gedanklichen Unkonsequenz bekommt die mechanistische Wissenschaftsideologie sogar einen Entstehungsmythos des Urknalls, der laut den Grundsätzen dieser Ideologie ebenfalls vollkommen sinnlos sein muss.

Die Wandlung des ernsthaften Erkenntnisstrebens wissenschaftlicher Forschung wird von Desmet mit folgendem Satz beschrieben: „Ursprünglich war sie [die Wissenschaft] ein Diskurs gewesen, mit dem eine Minderheit einer Mehrheit die Stirn geboten hatte; jetzt wurde sie selbst zum Diskurs der Mehrheit“ (Desmet, Die Psychologie des Totalitarismus, S. 28). ‚Die Wissenschaft‘ wurde in dieser Ausführungsart zu dem, was sie anfangs zu bekämpfen suchte. Sie wurde zu einem Machtzentrum für Massenmanipulation, Verzweckung, Ökonomisierung und Exklusion unpassender Denkrichtungen. Desmet beschreibt diese Entwicklung anhand einiger Beispiele in Bezug auf die fehlende Stabilität der Ergebnisse wissenschaftlicher Experimente, in Bezug auf wissenschaftlich produzierte Zahlen, die das nicht halten können, was sie stets versprechen (Eindeutigkeit), oder in Bezug auf die subjektive Verstrickung der am Peer-Review beteiligten Forscher.

Das sinnfreie mechanistische Weltbild fand seinen Sinn in dem Drang nach praktischer Anwendung der Wissenschaft und förderte eine künstliche Gesellschaft, die immer mehr ihre Ängste durch totale Kontrolle überwinden will und zunehmend nach einem Meister schreit. „In dieser Hinsicht gleicht der Computer dem idealen totalitären Führer: dem Führer, der der Bevölkerung rücksichtslos seine Logik aufzwingt.“ (S. 109). Dem Staat kommt diese Sehnsucht nach der Befreiuung von der „Last der Freiheit“ (S. 113) sehr gelegen. So hilft er mit zahlreichen Geboten und Verboten.

„Die Entstehung der Masse“

Wie bereits Horkheimer und Adorno (Stichwort: „Dialektik der Aufklärung“) greift Desmet die Kehrseite der Aufklärung auf und deutet auf ihre destruktiven, dehumanisierenden Ergebnisse hin (Nationalsozialismus, Stalinismus). Kant scheint ihm dabei (wie den meisten) der Vertreter der Aufklärung schlechthin zu sein. Dieser Punkt wird von mir später aufgegriffen.

Aus diesen verkehrten Aufklärungsfrüchten kommt der Begriff des totalitären Staates, welcher sich von Diktaturen insofern unterscheidet, dass er auf den psychologischen Prozess der Massenbildung statt bloßer physischer Aggression und Einschüchterung setzt. Diese Masse wirkt als eine Kollektivseele uniformierter Individuen.

Auch wenn die Massenbildung kein neues Phänomen darstellt, konnte die sogenannte Coronakrise „zum ersten Mal in der Geschichte den Punkt erreich[en], an dem die komplette Weltbevölkerung über einen längeren Zeitraum von ein und derselben Massendynamik ergriffen“ wurde (S. 126). Diese Tatsache hebt die geschichtlich bekannte Massenbildung auf eine gänzlich neue Stufe, auf die globale Stufe.

Desmet nennt vier Bedingungen für die Massenbildung im großen Maßstab, die bereits heute erfüllt sind:

  1. soziale Isolation / Einsamkeit. Ich würde hier auf die allgegenwärtige Subjektivierung in beinahe allen Gesellschaftsbereichen hindeuten (Stichwort: Millieus statt Schichten, Konstruktivismus, Akteurschaft der Kinder, Fokusverlagerung auf individuelle Lösungsstrategien und Handlungskompetenz statt Gesellschaftskritik an Machtverhältnissen etc.).
  2. Mangel an Sinngebung. Das mechanistische Weltbild ist per se sinnleer. Dementsprechend sind auch seine bewussten und unbewussten Vertreter.
  3. flotierende Angst (ohne eines konkreten Objekts) und psychisches Unbehagen in der Bevölkerung, die stets in Panik umzuschlagen drohen.
  4. viel ungebundener Frustration und Aggression als Ergebnis der ersten drei Bedingungen.

Diese Bedingungen führen anschließend durch die suggestive (mediale) Lenkung auf ein Objekt der Angst (Virus, Impfgegner, Klimawandel, ‚Klimaleugner‘ etc.) zu der Massenbildung, welche das Objekt kontrollieren will. Dabei entsteht ein psychologischer Gewinn:

  1. Mentale Beherrschungsmöglichkeit zuvor unbestimmter Angst durch die Koppelung an ein konkretes Objekt
  2. wachsender Zusammenhalt, „Solidarität mit dem Kollektiv“ (S. 131), im gemeinsamen Kampf gegen ‚den Feind‘
  3. Abbau schwellender Frustration und Aggression, „insbesondere an der Gruppe, die sich der Erzählung [Narrativ] und der Massenbildung nicht anschließen will“ (S. 130).

Innerhalb dieses Massenbildungsphänomens werden alle negativen Faktoren des entsprechenden Narrativs völlig ausgeblendet. Nur die Objekte der Angst und entsprechende Lösungen stehen im „Lichtkreis einer Lampe“ (S. 136), alles andere spielt keine oder nur eine nebensächliche Rolle.

„Die Lenker der Masse / Verschwörung und Ideologie“

Bis hierhin ist die Analyse von Desmet aus meiner Sicht ausgezeichnet. Auch im späteren Text kommen noch sehr treffende Inhalte. Doch in den folgenden zwei Kapiteln begeht Desmet eine Gedankenungenauigkeit, die anschließend zu einem recht massiven Gedankenfehler (unter Vorbehalt) führt. Er abstrahiert die Entwicklung der Massenbildung und des Totalitarismus zu einer (wohl an die Idee der Systemtheorie angelehnten) (gruppen)dynamischen, nicht gezielt angeleiteten Entwicklung und stützt sich dabei auf die „Banalität des Bösen“ von Hannah Arendt. Die Lenker der Masse werden demnach nicht als bewusst böse Handelnde und absolut Wissende beschrieben, sondern als das Resultat einer entsprechenden Logik und Ideologie. Beide Teile des Ganzen (die Lenker und die Masse) stehen laut Desmet unter einer zirkulären Kausalität, „sie hypnotisieren sich gegenseitig“ (S. 148). Arendt beschrieb das mit dem Begriff des „mörderischen Alphabets“, „Wer A gesagt hat, muß auch B sagen […] und so weiter bis zum Ende des mörderischen Alphabets“ (S. 152). Die Lenker der Masse und die gebildete Masse bilden also ein System, welches einer bestimmten, dehumanisierten und eiskalten Logik folgt.

Darauf baut Desmet konsequent den Gedanken auf, dass keine reale Verschwörung durch eine irgendwie geartete Elite existiert. Er betont, dass durchaus gesteuert und manipuliert wird, „aber diese Steuerung geschieht nicht primär durch Personen; die fundamentalste Steuerung ist unpersönlicher Art. Was steuert, ist in erster Linie eine Ideologie – eine Denkweise“ (S. 174). Durch die vermutlich unbewusste anthropomorphistische (vermenschlichende) Tendenz verlagert Desmet die ‚Steuerung durch eine Elite‘ auf die ‚Steuerung durch eine Ideologie‘. Die Ideologie bekommt willentliche Analyse- und Steuerungsfähigkeiten, eben wie ein Mensch bzw. eine Menschengruppe. Denn eine Ideologie formt sich nicht alleine, aus sich heraus, sondern wird von konkreten Menschen, Menschengruppen und Initiativen gefördert und geformt. Konkrete Menschen, Menschengruppen und Initiativen bilden eine Ideologie und formen daraus, durch mediale Herstellung der Öffentlichkeit, die dominante Erzählung, das Narrativ. Eine Ideologie, die die Lenker, wie auch die Masse beeinflusst, müsste frei von Menschen existieren.

Doch genau an dieser Stelle kann sein Gedankenfehler durchaus auch als eine intuitiv erfasste Tatsache angesehen werden, aber nur dann, wenn man eine geistige, übermenschliche Impulskraft annimmt, die die Menschen entsprechend eigenen Vorstellungen impulsiert. Wenn also eine Idee (übermenschlich) wesenhaft die Menschen analysieren und impulsieren kann, dann ist Desmets Gedanke kein Fehler. Aber nur dann! Dann kann man zumindest hypothetisch eine über dem Menschen stehende wesenhafte Kraft annehmen, die die Idee einer bestimmten Ideologie gleichmäßig über alle Menschen hinweg bzw. innerhalb des kollektiven Seelenlebens aller Menschen impulsiert und fördert. Nur die jeweiligen Machtpositionen innerhalb des sozialen Raums und die Fähigkeit und Unfähigkeit der Selbstreflexion entsprechender Akteure in Bezug auf die jeweilige Ideologie würden dann darüber entscheiden, wie erfolgreich diese Manipulation vonstatten geht und bei welchen Personen sie mehr ansetzt.

Es ist durchaus angebracht ein unreflektiertes, affektiv und flächendeckend auftretendes Verschwörungsdenken als nicht zielführend und sogar gefährlich zu bezeichnen. Menschengruppen, die sich durch ein ‚wir‘ definieren und ‚gegen die da oben‘ sind, führen nie zu einer erkenntnisreichen Entwicklung der Gesellschaft. Doch man sollte nicht mit dem Hinweis auf dieses Massenphänomen auch die reale Lenkung durch ganz konkrete Eliten und ihre medial gut aufgestellten und positiv klingenden Initiativen aus dem Bade kippen. Das Eine darf nicht das Andere ausschließen. Denn dann wäre der klassische inflationäre Gebrauch von totalitären Hilfskonstrukten wie „Verschwörungstheoretiker“ sogar durch Desmet legitimierbar (was vermutlich nicht seiner Absicht entspricht). Soziologische Untersuchungen elitärer Machtnetzwerke und ihrer Initiativen ist eine bittere Notwendigkeit unserer Postmoderne!

„Jenseits des mechanistischen Weltbilds“

In dem abschließenden Teil beschreibt Desmet seine Lösung in Bezug auf die regelrechte Gesellschaftspathologie unserer Zeit. Laut ihm müssen wir „die mechanistische Ideologie überwinden, um eine gründliche gesellschaftlich-kulturelle Lösung zu realisieren“ (S. 190). Und genau an diesem Punkt halte ich Desmet für einen der wenigen aktuellen Denker, die unsere Gesellschaftsproblematik als das Resultat einer mechanistisch-materialistischen Ideologie betrachten – „Massenbildung und Totalitarismus sind also im Grunde Symptome der mechanistischen Ideologie“ (S. 194). Ich selbst, versuchte genau diesen aus meiner Sicht zentralen Punkt vor ca. 3 Jahren grob zu umreißen: https://sozialekunst.eu/vom_theismus_zum_dataismus.pdf

Doch ich meine, dass Desmet genau hier einen zweiten (noch deutlich gewaltigeren) Denkfehler begeht, den ich im weiteren Verlauf zu verdeutlichen versuche. Sein Denkfehler kommt auch hier aus einer gewissen gedanklichen Unaufmerksamkeit. Er bezieht die Symptome der mechanistischen Ideologie lediglich (oder vor allem) auf die Massenbildung und den Totalitarismus. Doch diese Symptome sind deutlich subtiler. Sie ergreifen vollkommen alle Bereiche der Gesellschaft. Auch Desmet ist an dieser Stelle leider im Strom der Zeit, was nicht ungewöhnlich ist, da dieser Strom bereits eine recht lange Zeit zu unserer Normalität gehört.

Desmet schüttelt ordentlich an der bestehenden Normalität des mechanistisch-materialistischen Weltbildes eines toten, sinnlosen Universums. Er bringt einige lesenswerte Aspekte, welche die uns gewohnte ideologische Blickverengung erweitern können, um zu verstehen, dass ein totes und sinnloses Universum gar nicht möglich wäre, dass dieses Universum mit Geist und Willen durchdrungen werden muss, um als solches überhaupt da sein zu können.

Weiter geht Desmet auf die sehr entscheidende Tatsache mechanistisch-materialistischer Ideologie ein, die „implizit oder explizit von einer Hierarchie der Wissenschaften (S. 211) ausgeht. Diese Tatsache stellt eine mechanistische Interpretation der Physik als die fundamentale Ebene aller Wissenschaften dar. Aus der Physik wird die Chemie gedeutet, aus dieser die Biochemie, die Physiologie und die Psychologie. Daraus folgen die gesellschaftsnahen Wissenschaften der Ökonomie, Politik und Soziologie. Er kritisiert das daraus hervorgehende materialistische Weltbild und das Dogma der über den Geist dominierenden Materie, unter welchem das Geist-Gehirn-Problem (kann geistige Tätigkeit vom Gehirn produziert werden?) wohl die zentralste Erscheinung ist.

Der weitreichende Denkfehler von M. Desmet

Doch sein zweiter Denkfehler (wobei man den ersten unter erwähnten Umständen gar nicht als Fehler interpretieren kann) erlaubt seiner vorgeschlagenen Lösung der Weltbilderweiterung keine Verwirklichung. Dieser Denkfehler äußert sich von zwei Seiten:

  1. einerseits ist es eine Vermenschlichung der Tiere und damit ein unzulängliches Verständnis dessen, was den Menschen in seinem eigentlichen Kern definiert. Die Vermenschlichung der Tiere kommt an einigen Stellen zum Vorschein. Auf der Seite 95 geht Desmet davon aus, dass Tiere im Gegensatz zu Menschen nicht „von einem Mangel an Wissen geplagt werden“. Er nimmt die Tiere also als Wissende an. Desmet stützt sich dabei auf die Eindeutigkeit der tierischen Symbolwelt im Vergleich zur „ständigen Spannung infolge der ewigen Ungreifbarkeit der [menschlichen] Symbolwelt“ (S. 96). Desmet meint, dass Tiere Zeichen benutzen, „die in einer festen und relativ unveränderlichen Beziehung zu demjenigen stehen, worauf sie verweisen“ (S. 153). Auf der Seite 167 vergleicht er das Schwarmverhalten der Tiere, welches als Superindividuum bezeichnet wird, mit menschlichem Verhalten. Es wird hier ein gravierender Denkfehler sichtbar, der den Tieren ein Wissen und ein Gebrauch von Zeichen unterstellt. Doch ein Wissen bedarf der Reflexion, um Wissen genannt werden zu können, ansonsten muss das, was an den Tieren beobachtet werden kann, lediglich Trieb und Affekt bezeichnet werden. Auch ein Gebrauch von Zeichen bedarf eines Selbstbewusstseins, einer geistigen Reflexion, da der Begriff des Gebrauchs ansonsten nicht gerechtfertigt ist. Es kann jedoch nicht behauptet werden, dass die Tiere Zeichen gebrauchen, sondern lediglich diese unbewusst, triebhaft ausleben. Es fehlt ihnen der geistige Aspekt um vom Wissen und Gebrauch reden zu können. Doch genau dieser geistige Aspekt ist ausschließlich die menschliche Qualität schlechthin! Tiere haben keine Unterbrechung des Reiz-Reaktion-Musters. Ihr Bewusstsein ist geknechtet an den unbewussten Zweck ihrer Grundbedürfnisse (Essen, Schutz und Fortpflanzung). Zum Beispiel ein selbstbewusst erscheinender Rabe, der mit einem Stöckchen eine Nuss aus einem Käfig holt, ist kein Beweis eines bewussten Werkzeugeinsatzes, da er lediglich von der Nahrungsaufnahme getrieben ist. Das Menschliche fängt aber genau in der Unterbrechung solcher Muster, auch wenn dabei Werkzeuge fürs praktische Leben entstehen. Dies weiter zu vertiefen, wäre aber ein Thema für sich.
  2. andererseits ist es die Beschränkung des menschlichen Geistes unter dem Kantschen Dogma der Vernunftsgrenze, der Grenze der Erkenntnisfähigkeit. Die Aufklärungstradition scheint Desmet auf „die Ideologie der Vernunft“ zu reduzieren (S. 112) und der menschlichen Ratio ganz im Kantschen Sinne eine Grenze zu setzen (S. 231). „Das Wesen der Dinge ist [laut Desmet] nicht rational erfassbar“ (S. 232). Jede rationale Erkenntnis bleibt „der Essenz des Objekts, das er zu be-greifen versucht, fremd“ (S. 232). Desmet geht also von einem Positivismus aus, von den gegebenen Objekten, die uns durch Vernunft nicht fassbar sind und stets ein „unbegreifbares Mysterium“ (S. 232) bleiben. Die Ratio sieht er als eine Zwischenstufe zu einem höheren „poetischen oder mystischen Diskurs“ an (S. 234). Die Lösung von Desmet ist also die Mystik, während der Kern eines Phänomens als „immanent unlogisch und für den menschlichen Verstand unerreichbar“ (S. 238) bezeichnet wird. Das Gefühl scheint Desmet dabei „den Kern unserer Existenz als Mensch“ auszumachen (S. 241) und die Erkenntnis über „die Grenzen des Verstandes“ (S. 245) bzw. das „Wissen, dass keine einzige Logik absolut ist, ist die Bedingung für mentale Freiheit“ (S. 245).

Fazit

Desmet setzt dem Menschen somit Erkenntnisgrenzen und stellt das Gefühl über das Denken, während er dem Tier eine menschenähnliche geistige Qualität zuspricht, die sogar besser funktionieren soll (Wissen und Gebrauch von Zeichen). Meiner Ansicht nach kam der Mensch noch nicht einmal im Ansatz an irgendwelche Erkenntnisgrenzen, sondern folgte (beinahe blind) dem Kantschen Dogma. Jetzt steht der Mensch jedoch an einem existenziellen Problem, welches er als solches gar nicht begreift. Durch die Grenzen der Erkenntnis, beschneidet der Mensch sich um seinen eigenen Geist, um seine geistigen Fähigkeiten, die keiner Grenze unterliegen. Da diese Fähigkeiten den Menschen in seinem Kern ausmachen, beschneidet der Mensch sich selbst in seinem Menschsein. Aus diesem Grund fördert er bewusst oder unbewusst den aufkommenden Transhumanismus, welcher im Posthumanismus aufgehen wird. Der Mensch vernichtet sich also selbst, wenn er weiter unreflektiert diesen Gedanken folgt.

Dennoch ist das Buch das bisher Treffendste, was ich über die aktuelle Gesellschaftsproblematik gelesen habe. Ich hoffe, dass Mattias Desmet, der diesen Artikel im Sinne eines ‚offenen Briefes‘ bekommt, darauf eingehen will und wir diese Punkte fruchtbar diskutieren können.

Die Freiheit des Menschen ist aus meiner Sicht lediglich im Denken zu greifen, da das Gefühl uns in die ausschließlich subjektive Welt versetzt und der gedanklichen Realität zwar sehr wichtige persönliche Anteilnahme und Warmherzigkeit verleihen kann, das Denken allein kann uns aber zu gemeinsam gültigen Erkenntnissen führen, die auch über die Grenzen mechanistisch-materialistischen Ideologie hinausgehen. Das Denken setzt das Subjektive, wie das Objektive voraus, um sich selbst dann unsinnigerweise Grenzen zu setzen. Um so wichtiger erscheint mir der anstehende Artikel über die Erkenntnistheorie.

Die Aufklärungstradition mag vor allem mit Kant in einer massiven Dehumanisierung münden. Doch es liegt nicht an der Vernunft und am Denken an sich, sondern an einer impliziten Entmenschlichung der Aufklärung bereits in ihren Anfängen. Dieser Entmenschlichung der Aufklärung haben wir die bitteren Früchte unserer Zeit zu ‚verdanken‘. Die nötige Aufklärung 2.0 braucht den geistigen Humanismus (https://sozialekunst.eu/2021/07/23/materialismus/), welcher seine Fehler aufarbeitet und über die selbstgesetzten künstlich-dogmatische Grenzen geistiger Tätigkeit hinausgeht!

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