Dieser Beitrag über die Ideen von Lars Grünewald zu Unterrichtsmethoden (und Inhalten) reiht sich in eine Serie von Beiträgen ein, die Ideen von Menschen zur gesellschaftlichen Verbesserungen darstellen (im engeren oder weiteren Sinne). Diese Beiträge werden von mir in Bezug auf eine sehr markante Zeiterscheinung kritisch betrachtet, die sich folgendermaßen äußert:
Jedes mal, (vor allem) wenn Menschen sich Gedanken zur Verbesserung gesellschaftlicher Gestaltung machen, schleichen sich Knackpunkte ein, an denen die durchaus (in den meisten Fällen) gut gemeinten Ideen zunehmend oder unmittelbar mehr oder weniger zu ihren Gegenbildern werden. Das beabsichtigte Gute wird dadurch ungewollt und oft unbemerkt zu einem unbeabsichtigten Üblen. Wie ein Gift breiten solche Knackpunkte Ihre Konsequenzen über die Zeit aus und verderben eine noch so gut gemeinte Idee.
Meine Kritik ist also nicht im Sinne einer Zerpflückung und Diskreditierung von Menschen und ihren Ideen gemeint, sondern 1. als die Bewusstmachung von eben diesem allgegenwärtigen Prozess der subtilen Ideenvergiftung und 2. als eine Notwendigkeit gegenseitiger ‚philosophischer (nicht moralischer) Ermahnung‘. Damit meine ich schlicht eine gegenseitige gedanklich-kritische Auseinandersetzung, die nicht auf Moral, sondern auf Argumentation baut. Denn auch in Bezug auf meine Ideen wünsche ich mir eine Diskussion um solche Knackpunkte, die sich oft sehr gut in scheinbaren Kleinigkeiten kaschieren können.
Leider hatten die Menschen, an die ich bisher meine kritischen Beiträge öffentlich richtete, kein Interesse gehabt in solch eine Diskussion einzusteigen. Auch dieser Beitrag wird persönlich demjenigen, dessen Ideen ich hier kritisch betrachte, zugeschickt. Bei solchen gesellschaftsrelevanten Themen bevorzuge ich den öffentlichen Raum (in dem Fall natürlich nur eine digitale Karikatur desselben) gegenüber dem persönlichen Kontakt. Es soll die Gesellschaft von solchen Auseinandersetzungen ebenfalls etwas Gutes haben. Die Beiträge, auf die bereits diese kritische Betrachtung angewendet worden ist, sind die folgenden:
Unterrichtsmethoden und Inhalte für eine bessere Schule
Nun zu der Idee von Lars Grünewald zu Unterrichtsmethoden. Es folgt eine sehr knappe Beschreibung seiner Idee, die hier (auf seinem Youtube-Kanal) in voller Länge betrachtet werden kann und im Sinne meiner nur knappen Beschreibung auch sollte.
Lars Grünewald unterteilt den Unterricht in 3 Bereiche:
- Fachunterricht
- Themenkunde
- Projektarbeit
Fachunterricht soll Sachkompetenz und gewissermaßen das Denken fördern und aus folgenden Fächern bestehen:
- Sprachen (Deutsch und Englisch)
- Mathe (in begrenzter Form, z.B. ohne Vertiefung in Integralrechnungen oder projektive Geometrie etc.)
- Kommunikation
- Medienkunde (samt Medienkritik und Hintergrundverständnis)
- Sozialkunde (samt praktischen Bezug zu sozialen Fähigkeiten)
Themenkunde soll bei den Schülern (und natürlich! auch Schüler*Innen) das Interesse an der Welt, welches vor allem sich im Gefühl äußert, wecken.
Projektarbeit soll im Sinne einer Willensschulung als eine Vorbereitung der späteren selbstorganisierten freien Bildung dienen. Von gemeinschaftlichen Projekten entwickelt sich die Gestaltung zu individuellen Projekten, die die Schüler eigenständig durchzutragen lernen.
Die Benotung soll 4-stufig erfolgen und lediglich zur Feststellung des Förderbedarfs behilflich sein. Bisher dient sie bekanntermaßen zur besseren Beurteilung und Messbarkeit des Humankapitals (quasi ‚Menschen‘) und somit einer besseren Allokation (Verteilung) auf dem Arbeitsmarkt.
Das Ziel der ganzen Unterrichtsmethoden soll den bestmöglichen Anschluß an die Gesellschaft ermöglichen.
Soweit zumindest mein Verständnis davon. Wenn mir in der sehr knappen Zusammenfassung ein Fehler unterlaufen soll, bitte ich um einen Hinweis.
Knackpunkte dieser Idee der Unterrichtsmethoden
Grundsätzlich halte ich die Darstellung von Lars Grünewald für sehr interessant und teilweise sachlich treffend. Man müsste noch natürlich Genaueres ausdiskutieren. Zum Beispiel inwiefern Physik, Chemie, Biologie, Geschichte (wenn ichs recht verstanden habe, wäre es ein Teil der Sozialkunde) und vor allem Kunst/Ästhetik in den Fachunterricht bzw. in die Themenkunde (Thema: Elektizität z. B.?) eingeflochten werden können/sollen (?). Auch wäre die Frage interessant, inwiefern er dem Werden des Kindes in dem methodischen und thematischen Aufbau des Unterrichtes über die Klassenstufen hinweg gerecht werden will (jedes Alter muss anders gegriffen werden – ein Mensch ist nicht gleich Mensch, sondern ist im Werden begriffen – dieses Werden gilt es zu erfassen). Wenn solch eine Einflechtung und Berücksichtigung des Werdeprozesses stattfindet, dann könnte ich bei seiner Idee grundsätzlich mit. Aber:
1. Benotung zur Förderungszwecken
Die Voraussetzung für jegliche Benotung – auch wenn sie nicht in Zahlenform erfolgt, sondern in gedanklichen Konzepten (Inhalte vollständig verinnerlicht, Inhalte mit Mängeln verinnerlicht etc.) – ist eine lineare und allgemeine Vorstellung der Entwicklung (des Menschen). Zu einem bestimmten Zeitpunkt mache ich einen Schnitt durch die Klassengemeinschaft und unternehme eben meine Beurteilung in Bezug auf den Lernerfolg. Etwas später mache ich wieder einen Schnitt und so weiter. Der Erfolg (nehme ich an) sollte dabei wachsen (ansonsten besteht Förderbedarf). Somit wäre das Lineare dieser Vorstellung erfüllt. Die Idee, dass alle Schüler ein bestimtes Pensum an Anforderungen in einer bestimmten Zeit verinnerlichen sollen, stellt die Verallgemeinerung im Sinne eines Musterschülers.
Unser bisheriges System (zumindest an halbwegs/verhältnismäßig guten Schulen bzw. mit guten Lehrern) funktioniert nicht sonderlich anders. Die gedanklichen Konzepte der Beurteilung werden zu konkreten Zahlen operationalisiert (in messbare, rechenbare Einheiten ‚übersetzt‘). Vollständig wird zu 1, Mängel werden zu 2 und so weiter. Bei guten Schulen und guten Lehrern erfahren die jeweiligen Kinder dann die entsprechende Förderung. So die Theorie.
Die Praxis sieht natürlich anders aus. Die Noten dienen lediglich der Separation nach Leistungstypen, der Zuordnung zu bestimmten privilegierten/nichtprivilegierten Schularten, der Allokation auf dem Arbeitsmarkt und letztendlich der Einordnung in eine bestimmte gesellschaftliche Schicht (ja, es gibt sie, trotz der bunten Milieus lustiger Subjektivierung). Deswegen meine ich die Idee von Lars Grünewald an diesem Punkt gut zu verstehen – man solle weg von der humankapitalistischen Verwaltung der Biomasse-Mensch hin zu einem ernsthaften Förderwillen gegenüber den Kindern. Doch aufgrund obiger Kritik, meine ich, dass diese Idee bereits in Anfängen korrumpiert ist und auf lange Sicht, wenn nicht gleiches, dann ein ähnliches oder vielleicht sogar ein schlimmeres Resultat bringt.
- ein Kind entwickelt sich (wie übrigens auch eine Pflanze und meines Wissens nach alles, was einer lebendigen Entwicklung unterliegt) in Schüben und teils Sprüngen. Es existiert keine lineare Entwicklung im lebendigen Bereich.
- ein Kind ist ein absolut individuelles Wesen. Das gemeinsam Humane, also Menschliche ist gewiss unser verbindender Faktor, doch jegliche Subsumierung unter andere Faktoren wie Schüler, Bürger etc. verzweckt den Menschen unter einem einzigen Teilaspekt seiner Existenz und beschränkt ihn darauf.
Bringt man diese zwei Punkte zusammen und holt etwas praktischer Erfahrung mit kindlicher, jugendlicher Entwicklung dazu, so wird man feststellen, dass manche Fähigkeiten und Kenntnisse bei diesem und jenem Kind früher bei einem anderen später kommen. Das Kind ist individuell, die Entwicklung ist nicht linear. Wie soll darin eine Benotung, auch ohne Operationalisierung zu Zahlen stattfinden, ohne der Vorstellung eines Musterschülers und der Vorstellung einer linearen Entwicklung, die lediglich gefördert werden soll?
Radikale Abkehr von Benotung hin zu utopischer Lehrervorstellung
Meine Lösung appeliert an die radikale Abkehr von jeglicher Benotung und will das utopische, aber werdende Ideal eines perfekten Lehrers realisieren.
Demnach liegt es in der vollen Verantwortung des Lehrers, der Lehrer (es ist ja hoffentlich ein Kollegium) die Kinder derart im Blick zu haben, dass die bestmögliche Förderung völlig ohne Noten funktioniert. Der Prozess bleibt dabei vollkommen dynamisch. Das Wichtigste dabei ist nur, dass der Blick zum jeweiligen Kind nicht abreißt.
Es mag übermenschliche Anforderungen an den Beruf eines Lehrers stellen, doch ich bin überzeugt, dass diese Anforderungen an die Ausbildung der Lehrer gestellt werden müssen. Ihre Ausbildung muss also vollkommen überarbeitet werden. Sie müssen ganz andere Fähigkeiten mitbringen (zusätzlich zu dem, dass der Unterricht ganz andere Inhalte und von mir aus auch Methoden mitbringen muss), als bisher angedacht, wenn sie vor eine Klassengemeinschaft treten.
2. Reduzierung von Mathe auf das lebenspraktische Gebiet
Wenn ich Lars Grünewald richtig verstehe, dann würde er die Mathematik auf das ‚Wesentliche‘ reduzieren. Das ‚Wesentliche‘ scheint das gesellschaftlich notwendige zu sein. Diese Ansicht ist in der alternativen Sicht auf Schulen sehr weit verbreitet. Integralrechnung, projektive Geometrie, Matrizen, vielleicht auch Funktionen… was soll man damit im Leben anfangen, wenn ich nicht gerade ein Architekt, ein Physiker oder sonst was werden will?!
Als (aus Verzweifelung) überzeugter Mathe-Hasser in meiner Kindheit (ich hatte beinahe nur 4er und 5er) und Spätjugend wäre genau das DIE vermeintliche Lösung all meiner Matheprobleme! Weg mit all dem lebensfernen Kram verstaubter Professoren! Im erwachsenen Alter (mit bestimmten Erkenntnissen und Erlebnissen) stellte ich fest, dass ich selbstverständlich falsch lag.
Mathematik ist etwas ganz Essenzielles in der Schule, doch sie wird vollkommen falsch unterrichtet! Unsere kranke Gewohnheit realisiert Mathematik als eine Rechenmaschinerie, die zur Berechnung dieser und jener Probleme eingespannt ist. Die reduzierte Mathematik erlaubt mir mein Geld an der Kasse zu zählen, Rabatte zu verstehen und Umzug in eine neue Wohnung zu planen (Stichwort: Geometrie), die ’normale‘ Mathematik hilft mir dann bei der Erstellung von Prognosen gegenüber meinen (sinnlosen) Kryptowährungen und die höhere Mathematik überlassen wir denjenigen, die dem ideologischen Materialismus mit Mathematismus beizukommen versuchen, indem sie das Universum in all seinen Aspekten berechnen wollen.
Doch genauso wenig wie ein Bürger einen Menschen repräsentiert, stellt eine zweckgebundene Rechnerei keine Mathematik dar. Wir müssen Mathematik von der bloßen Anwendung und wahnsinnigen Rechnerei lösen und auf die Metaebene der Mathematik blicken. Denn sie ist nichts anderes als die dem menschlichen Geist am nächsten stehende Veräußerlichung des Denkens. Mathematik IST das noch nicht materiell gewordene Denken in all seinen Facetten! Doch indem wir unser Denken nicht von der materialistischen Verzweckung lösen wollen, wollen wir seine ganz zentrale Bedeutung gar nicht begreifen (Dazu gerne hier mehr: https://sozialekunst.eu/2023/04/19/lebenspraxis-der-erkenntnistheorie-teil-1/). Begreifen wir in dieser Art all die mathematischen Operationen, erleben wir in ihnen das lebendige und tätige Denken. Das Denken und die Mathematik bedingen sich also in einer viel tieferen Art als gemeinhin bekannt ist.
Die Verzweckung der Mathematik und ihre stets trockene Darstellung führt dazu, dass wir selbstverständlich und konsequent zu dem (in diesem Denkrahmen) folgerichtigen Schluß kommen: weg mit allem Unwesentlichen in der Mathematik! Das Wesentliche ist das materialistisch Lebenspraktische! In der Art wird unser Denken und unsere Vorstellungen von allem, was wir leben, noch mächtiger begrenzt und an die materialistische Ideologie und den lebensunpraktischsten ‚Primat der Praxis‘ gebunden.
Stattdessen begeisterungsfähiger Matheunterricht mit wachsender Komplexität
Meine Lösung meint also ein Matheunterricht, welcher die Schüler ernsthaft begeistern kann, welcher ihnen erlebbar macht, dass es nicht um bloße Rechnerei geht, sondern um die Geschicklichkeit des Denkens, um die Gestaltung von Denkformen. Natürlich all dies entsprechend altersgemäß. Die höheren Klassen können aber durchaus mit Hilfe der Mathematik zum Erleben des tätigen menschlichen Geistes geführt werden! Gewiss wird nicht jeder den Zugang dazu finden, jeder wird aber ein mehr oder weniger starkes Erlebnis aus dem Unterricht mitnehmen, welches zumindest eine Ahnung mathematischer Tiefe in einem weckt.
Auch dies stellt sehr hohe Anforderungen an einen Mathelehrer, die aus meiner Sicht allerdings gefördert und gefordert werden müssen, wenn wir unsere Bildung als Menschen ernst nehmen wollen. Nur ein sehr geschickter Mathelehrer kann einem Kind (oder auch einem Erwachsenen) die Tiefe der Mathematik entschlüsseln helfen.
3. ‚Anschluß an die Gesellschaft‘ als Verzweckung des Menschen
Setze man den bestmöglichen ‚Anschluß an die Gesellschaft‘ zum Ziel der Bildungsvorstellung, erschafft man die größtmögliche Verzweckung und Zeitbedingtheit (Anbindung an die bestehende Zeitperiode) des Menschen. Denn ‚die Gesellschaft‘ ist stets eine konkrete Zeiterscheinung. Sie ist zwar dynamisch und fließend, aber zu den jeweiligen Zeiten doch stets mehr oder weniger klar abgrenzbar, definierbar.
Will man den Menschen an diese fließende Gesellschaft anbinden, so müsste man entweder stets wissen, wie die Gesellschaft zukünftig aussieht (das wird ja mit den bildungsreduktionistischen ‚Kompetenzen & Schlüsselqualifikationen‘ seit Pisa fleißig umgesetzt) oder man müsste immer gültige, absolute Faktoren einer Gesellschaft finden, die jeder Zeit zu jeder Gesellschaft passen.
Es wären gewiss sehr interessante Überlegungen und ich vermute, man könnte aus einer bestimmten Weltanschauung heraus tatsächlich auf solche kommen. Doch ich befürchte, man würde dann bei dem „Walden Two“ von Skinner oder bei der „Schönen neuen Welt“ von Huxley landen, also in einem technokratisch-transhumanistischen Gesellschaftssystem mit Ansprüchen einer Perfektion und Zeitlosigkeit. Die dem modernen China entliehene sogenannte Corona-Politik, mit ihrem Nudging, der Förderung klarer Feindbilder und sonstigen psychologischen Methoden der Massenverwaltung ist ja bereits die Entwicklung in diese Richtung.
Wir fahren da demnach sogar zweigleisig und erfüllen das obige Entweder, wie auch das Oder.
Die ‚Anbindung an die Gesellschaft‘ kann gar also nichts anderes kreieren als den Zwang eines Systems.
Anschluß an den Menschen als gemeinsames Urbild
Meine Lösung steuert dagegen den Anschluß an den Menschen, an die Idee des Menschen schlechthin, an die Idee des Menschen als verbindendes Urbild im Sinne seiner Gattung. Solch eine Anbindung überwindet alle Veräußerungen menschlicher Lebenspraxis. Bürgertum und Nation, Ethnie, Geschlecht, Weltanschauungen und Meinungen, Gesellschaftsformen und sonstige menschliche individuell und gemeinschaftlich berechtigte, moralische, unmoralische, zutreffende und fehlgeleitete Ansichten und Strukturen sie finden alle ihr unverrückbares Zentrum in dem gemeinsam Menschlichen.
Das höchste Ziel der Bildung müsste den Menschen also an den Menschen selbst anbinden! Die Idee ist nicht neu (Stichwort: W. v. Humboldt und Neuhumanismus), aber sie muss ganz neu gegriffen werden und das Scheitern des Humanismus aufgrund materialistischer Ideologie überwinden.
Selbstverständlich müsste man solch ein Urbild oder auch Archetyp Mensch erst herausarbeiten. Und auch dieser Anspruch mag einem utopisch erscheinen, doch ich bin der Ansicht, dass dies die einzig sinnvolle Anbindung, der einzig sinnvolle Anschluß des individuellen Menschen sein soll, der ihn im sozialen Raum zu einem stets zukunftsfähigen Menschen macht. Erst wenn ein Ich an das Ich angebunden ist, kann es sich völlig unabhängig von Zeiten, Kulturen, Strukturen und Ansichten bewegen.
Wir müssten uns an diesem Punkt also mit der Frage befassen: Was ist Mensch?
In diesem Sinne wünsche ich ein geistreicheres neues Jahr als die bereits verflossenen 100 Jahre!