Lebenspraxis der Erkenntnistheorie (Teil 1)

Bei dem Begriff Erkenntnistheorie stellen sich die meisten Leser (und auch Leserinnen) gewiss etwas sehr Trockenes, fern jeder Lebenspraxis vor. Wie soll auch ein derart abstraktes und theoretisches Thema etwas zum wirklich praktischen Gesellschaftswandel beitragen? Was sollen philosophische Gedanken über die Grundsätze unserer Erkenntnisfähigkeit zum praktischen Leben beitragen? Letztendlich helfen sie auch nicht beim Brötchen Backen oder moderner ausgedrückt beim KI-Programmieren. Wir brauchen Lebenspraktiker! Die Schule soll sich nicht mehr mit Goethe und abstrakter Mathematik beschäftigen, sondern mit Steuererklärungen, Mietverträgen und Hausbau!

Die modernen Anfänge der Praxis-Überlegenheit

Die Praxis ist das Kriterium der Realität gegenüber Theorien (K. Marx). Mehr noch! Die Praxis ist das Kriterium der Wahrheit (W. I. Lenin). Schaut man noch weiter zurück (ins 16. Jhdt.), wird man im Calvinismus (protestantische Ethik) eine religiöse Hinwendung zur Praxis entdecken, die weitreichende Folgen für unser gesellschaftliches Selbstverständnis hatte. Die daraus wachsende „deutsche Berufsmetaphysik“ (M. Brater) macht aus der Berufspraxis eine religiös angehauchte Berufung. Die Praxis ist also demnach etwas, was das Leben lebenswert macht und woran man jegliche Ideen wie an einer Messlatte messen kann.

Das Problem sehe ich allerdings nicht in einer derartig starken Hinwendung zur Praxis und zum Beruf, sondern in dem Grund dieser beinahe absolutistischen Hinwendung. Die Calvinisten waren davon überzeugt, dass der Mensch sich selbst nicht erlösen kann und lediglich von Gott auserwählt wird (oder eben nicht). Reichtum war ein Zeichen dieser Auserwählung. Dem Menschen blieb nichts anderes übrig, als stets fleißig zu arbeiten und darauf zu hoffen, dass ihm irgendwann Reichtum als Beweis seiner Auserwählung geschenkt wird. Mehr dazu in meiner Arbeit über die Verstrickung beruflicher Kompetenzen mit dieser Art der Ideologie.

Dieses calvinistische Dogma (der Mensch kann sich selbst nicht erlösen) betonierte I. Kant mit gekonntem philosophischem Anstrich etwas später am Ende des 18. Jahrhunderts in seiner „Kritik der reinen Vernunft“. Er schuf somit eine philosophische Grundlage, die bis jetzt (!) diesem Dogma volle Geltung verschafft. Das Dogma bekam nur ein wissenschaftliches Auftreten: Der Mensch kann die objektive Welt nicht erkennen, da er als Subjekt gegenüber der Welt (dem Objekt) nicht objektiv sein kann. Der Mensch ist demnach gefangen in seinen Erfahrungen und die wirkliche Welt ist das, was außerhalb geschieht. Daraus wachsener radikaler Konstruktivismus (jeder ist in sich gefangen und seines Glückes Schmied) und die Stärkung kybernetischer Ansichten (Mensch = Maschine) im 20. Jahrhundert sind nur Konsequenzen voriger Dogmatik.

Kritik der reinen Lebenspraxis

Was nützt uns also die Erkenntnis über dieses und jenes, wenn wir die Welt, die Fragen nach dem Woher, Warum, Wozu und Wohin gar nicht beantworten können (laut Kant)? Sie ist nützlich für die subjektive und intersubjektive Lebenspraxis der Menschen! Da wir als Menschen irgendwie koexistieren müssen, können wir diese Koexistenz in ihrer Praxis immer besser (angenehmer, effizienter und nachhaltiger) gestalten. Rücksichtsvoller Hedonismus, ganz im Sinne von „koste den Tag aus, aber schau, dass der Boden unter den Füßen nicht ganz zerstört wird!“ ist die ganz passende Lebenseinstellung dazu. Natur- und Tierschutz werden hoch gepriesen. Der Mensch kann ja eh nicht begriffen werden. Er muss sich als Störfaktor unterordnen. Industrie und Technologie als Gestalter der (un)menschlichen Umgebung bekommen somit DIE zentrale Stelle. Wenn ich nach Arbeitsstellen im Bereich der Bildungswissenschaft suche, dann bewegen sich die meisten im Bereich von „human ressources“ und klar ausgearbeiteter Konzepte zur Personalentwicklung, Projektentwicklung und entsprechender Prozessoptimierung. Die Lebenspraxis des Menschen brachte ihn in eine rein funktionale Umgebung technischer Logiken, die für sich alle treffend und gut ausgearbeitet sind, aber den Menschen höchstens noch als gut erzogenen und kompetenten Automaten brauchen (bis er überflüssig und störend wird).

Theorie als wirkliche Gestalterin der Lebenspraxis

Wenn aber die Praxis etwas ist, woran man jegliche Ideen, also jede Theorie ihrem Realitäts- und sogar Wahrheitsgehalt nach messen kann, dann scheinen unsere Theorien uns in eine entmenschlichte Sackgasse geführt zu haben. Wohl haben wir entmenschlichte Theorien zur Grundlage unserer Gesellschaft gelegt, woraus sich eine entsprechende Lebenspraxis entfaltet hat. Die Praxis mag also die Theorien in ihrem Realitätsgehalt offenbaren. Doch dies bedeutet, dass eine Theorie und vor allem die damit verbundene Erkenntnisarbeit als primärer Schritt des Gesellschaftswandels angesehen werden muss. Sinkt eine Theorie in das Selbstverständnis einer Gesellschaft (so wie es im Fall von Kantscher Selbstbeschränkung ist) wird sie allerdings gelebte Praxis. So kann man sagen, dass jegliche Ideen eine hierarchisch höhere Position gegenüber der Lebenspraxis aufweisen. Theorien gestalten die Lebenspraxis. Theorien, die nicht mehr angefasst werden, die zu einem festen Paradigma geworden sind, gestalten diese Praxis um so mehr und intensiver.

Erkenntnistheorie als Basistheorie

Will man an den Theorien als Wurzeln unserer Lebenspraxis wackeln, kommt man nicht an der Erkenntnistheorie vorbei, der eine ganz zentrale Stelle beigemessen werden muss. Sie ist die Basistheorie aller Wissenschaften. Es gibt keine einzige Wissenschaft, die nicht auch auf eine entsprechende Erkenntnistheorie baut. Will man also prüfen, inwiefern wir eine dehumanisierte Lebenspraxis geschaffen haben, müssen wir zurück zu der Wurzel unserer Theorien. Mag sie uns noch so trocken und lebensfern erscheinen, entscheidet gerade sie über jegliche Auswüchse unserer Lebenspraxis. Wenn die Erkenntnistheorie uns also derart trocken erscheint, haben wir sie über Jahrhunderte trocken gelegt und trocken gehalten. Wenn aus ihr unweigerlich eine entsprechende Lebenspraxis entsteht, kann sie gar nicht trocken sein. Sie bildet den Grundstock unserer menschlichen Entwicklung! Während wir auf die Lebenspraxis stieren und sklavenhaft darin eingebunden sind, gestaltet die Theorie über die menschliche Erkenntnisfähigkeit unsere gesamte gesellschaftliche Existenz. In dieser oder jener Gedankenform muss sie uns so nah werden, wie die Luft zum Atmen.

Befreiuung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit

Wenn die Kirche uns eine Unmöglichkeit der geistigen Entwicklung auferlegte, so übergoss uns die Kantsche Wissenschaft mit der geistigen Begrenzung, die man mit Kantschen Worten als selbstverschuldene Unmündigkeit bezeichnen kann. Wir müssen den uns anerzogenen Schrecken vor der Philosophie und die einseitige Ergebenheit an die Praxis zugunsten unserer menschlichen Entwicklung überwinden. Niemand muss dafür Philosophie studieren oder die gesamte Forschung zur Erkenntnistheorie erfassen. Bereits bestimmte Schlüsselerlebnisse können uns auf einen Gedankenweg bringen, der die Grundsätze und Probleme bisheriger Überzeugungen ins Licht rücken kann. Aus diesen Gedanken kann jeder Mensch eine Philosophie der geistigen Freiheit verschiedener Tiefe entwickeln, die ihn erst zu der ganz praktischen Realität des menschlichen Geistes führt.

Die folgenden zwei Teile werden sich konkret mit den zentralen Inhalten der Erkenntnistheorie beschäftigen, um daraus menschengerechte Gedankenformen zu entwickeln.

Schreibe einen Kommentar