„Das Ende des Kapitalismus“ – U. Herrmann

Wort- und Zitatgewaltig fährt Ulrike Herrmann in Ihrem Buch „Das Ende des Kapitalismus“ gegen die Idee des ‚grünen Wachstums‘ und gegen alle Lösungen, die den kapitalistischen Wachstum miteinbeziehen und sich nicht davon verabschieden. Das Buch landet auf dem Platz 1 der Spiegelscher Bestsellerliste. Der ZDF-Propagandist Markus Lanz, der gekonnt und öffentlichkeitswirksam durch Pseudodiskussionen einen Herrschaftsnarrativ herzustellen weiß, sagt darüber: „Ein unglaubliches Buch, das keinen kalt lässt“ (Buchcover). Nachdem es mir geschenkt worden ist, konnte es auch mich nicht kalt lassen. Verzeihen Sie mir also bitte die zwischendurch kommenden Gemütsäußerungen.

Die Rettung der Welt

Kein Wunder, denn die Rettung der Welt vor betonierten Gefahren steht ganz oben auf der Agenda plötzlich höchst sozial gewordener Regierungen, elitärer Philanthropen und umfassend gebildeter Jugendmassen. Die Letzteren können dabei wunderbar wie Fahnen im Wind mal für konstruktivistische (jeder ist seines Glückes Schmied), subjektivierende (den Gesellschaftskontext ausklammernde) Lebenskonstrukte fern jeglicher Gesellschaftskritik, mal als extremistische Weltretter und radikale Forderer gut gebraucht werden. Der postkapitalistische Philanthrop Klaus Schwab weiß von der ‚guten‘ radikalen Kraft der Jugend und der Aktivisten, die das ‚Gute‘ selbst bei Wirtschaftsunternehmen und Staaten erzwingen können (K. Schwab, Covid-19: der große Umbruch, 2020, S. 118, 173). Inwiefern diese Thematik mit dem Unvergleichbaren verglichen werden kann, müssen empirische Forschungen herausfinden. Auffallend ist jedoch, dass das Ansprechen „jugendspezifischer Motivationen und Reaktionsweisen“, die „Aufwertung der jungen Generation zu einer gesellschaftlichen Regenerationschance“ und Aufstacheln der Jugend gegen die alte Generation gerade in der deutschen Geschichte gut bekannt sein dürfte (A. Klönne, Jugend im dritten Reich, 1990, S.85 ff.). Denn bereits „Hitlers Sache war die Sache der Jugend… und ihrer Revolution“ (R. Schneider-Schelde, Die Frage der Jugend, 1946, S. 95). Aber dieses Thema soll hier nur beiläufig, im Kontext florierender jugendlicher Weltrettung erwähnt werden. Immerhin waren die jungen Menschen das biegsamste Werkzeug totalitärer Staatsregimes (Stichwort: Pioniere/DDR). Also zurück zum „Ende des Kapitalismus“.

Zusammenfassung vom „Ende des Kapitalismus“

Müsste das Buch in wenigen Sätzen zusammengefasst werden, könnte die Zusammenfassung folgendermaßen ausfallen: Ulrike Herrmann entfaltet zuerst einen relativen Lob an den Kapitalismus und die damit verbundene Wachstums- und Wohlstandsgesellschaft, führt vor, dass die technologischen Ideen, die das ‚grüne Wachstum‘ stützen sollen, nicht funktionieren, baut zwischendurch ein Schreckensszenario von der Weltzerstörung auf und mündet in der britischen Kriegswirtschaft als dem Beispiel einer ‚guten Kriegswirtschaft gegen das Böse‘ mit der nötigen Staatslenkung. Dabei lässt sie Aspekte jeglicher Machtkritik vollkommen beiseite und beschwört immer wieder die Merkelsche Alternativlosigkeit herauf, zu der die Gesellschaft bereits jahrzehntelang erzogen wird. Dieses Buch ist einer der besten Beispiele für die Umerziehung von Wohlstands- zu Selbstbeschränkungsgesellschaft! Ganz im Sinne von Schwabs WEF werden die Menschen wenig oder nichts besitzen und dabei glücklich sein, weil sie sich zum Beispiel alles leihen können. Es sind verblüffend viele Parallelen zwischen Schwabs alternativlosem „Great Reset“ und der alternativlosen Verstaatlichung von Herrmann. Nur bezieht sich Schwab auf die ‚von sich aus‘ (aber eigentlich vor allem durch die Covid-Politik) stattfindende globale Veränderung, die diesen ‚great reset‘ kreiert. Ganz im Stil von Y. N. Harari ist er lediglich der selbsterklärte Außenstehende, der die Wirklichkeit ‚wie sie nun mal ist‘ beschreibt (aber eigentlich beide herausragende Propagandisten sind). Herrmann bezieht sich eher aktiv auf die Schrecken der Weltzerstörung durch Menschen und appelliert an die Rettung durch ‚den Staat‘. Dennoch gleicht sich der Stil zunehmend an den ‚objektiv beschreibenden‘ Still der beiden anderen Propagandisten.

Dieser Artikel soll als ein zweites Beispiel für das Dilemma unserer Zeit gelten. Das erste Beispiel kann bei Dr. Nehls und dem „erschöpften Gehirn“ gesucht werden. Also gehen wir mal einige Passagen durch, um ein griffiges Bild zu bekommen. Für den Rest des Artikels folge ich dem Buch mehr oder weniger chronologisch.

Einleitung

Der erste Satz schlägt schon mal direkt in die Kerbe des medial gekonnt angefeuerten Generationenkonflikts: „Viele Jugendliche verzweifeln an den Erwachsenen“ (S. 9). Gefolgt von einem niedlichen jugendlich-unreflektien Hochmut der Edel- oder besser gesagt Elite-Klimaaktivistin Luisa Neubauer, die ratlos darüber ist, dass Merkel als Physikerin das Klima nicht schon früher gerettet hat. Die Zukunft der Jugendlichen ist gefährdet! Sie sind fassungslos! An dieser Stelle empfehle ich wärmstens wissenschaftliche Literatur zur Aufarbeitung der Hitler Jugend. Es ist beinahe verstörend, wie ähnlich die Muster der Instrumentalisierung sind. Nur damals ging es um böse Sachen, heute ist’s die Rettung der Welt. Das kann man und darf man gewiss nicht vergleichen! Ansonsten empfehle ich meine Arbeit aus dem Studium über die Instrumentalisierung ‚mündiger Kinder‘ durch die neoliberale Agenda. Das Thema muss noch mehr untersucht werden, denn es hat eine Systematik, die auf den ersten (und auch den zweiten) Blick gar nicht als problematisch auffällt.

Das Ganze wird durch eine angebliche ‚Faktenwissenschaft‘ im Stil von „follow the science“ betoniert. Von Wissenschaftskritik und wissenschaftlichen Basics in Bezug auf ‚Faktenerklärungen‘ scheint Herrman (und natürlich die Kinder) nichts zu kennen. Es kommt die schwedische Diktaklistin (Diktatur + Klima + Aktivismus) Greta Thunberg zu Wort, die sinngemäß von Herrmann wiedergegeben wird: „Also soll die Politik nichts mehr zu entscheiden haben, sondern nur noch auf die Wissenschaft hören“ (S. 10). Herrliche Propaganda für Technokratie und eine Hetze gegen Demokratie! Oben drauf noch Lauterbach als ‚Hof-Wissenschaftler für alles‘, der die Dämlichkeit der Menschen attestiert, da diese die eigene Erde abbrennen. Doch trotz technokratischer Ansprüche auf eine ‚Faktenwissenschaft‘ (die unwissenschaflichste Kuriosität des neuen Jahrhunderts schlechthin!) ist alles nicht so einfach. Der Kapitalismus muss weg, so Herrmann. Aber wie, ohne eine (mal wieder) furchterregende Krise zu erzeugen? Denn „es fehlt eine Brücke aus der dynamischen Gegenwart [stets wachsender Kapitalismus] in eine statische Zukunft [Herrmans Lösung]“ (S. 12). Wenn man das Buch angefangen hat von hinten zu lesen (wie ich) – denn dort sind die interessantesten Kapitel zu finden – dann hat man eine starke Vermutung, was diese Brücke sein soll. Und ja, man kann die Brücke erraten. Es ist die „britische Kriegswirtschaft“ (S. 13). Ja, ernsthaft, das ist die Herrmannsche Lösung für die Weltrettung und den Schritt in eine „statische Zukunft“. Die gute Frau ist eng mit TAZ verwachsen. Das grüne Faible für Krieg erlebt hier eine Symbiose mit Wirtschaft. Es ist großartig! Herrmann könnte die Wirtschafts- und Verteidigungsministerin zugleich in der neuen ‚deutschen Kriegswirtschaft‘ sein. Immerhin ist sie vom Fach. Um nicht militaristisch daher zu kommen, rudert Herrmann allerdings etwas zurück und betont, dass es um das ‚gute Modell der Briten‘ handelt, welches nicht zu vergleichen ist mit Hitler oder Putin (in einem Satz erwähnt). Gleichzeitig soll es natürlich nichts mit Sozialismus (Planwirtschaft) zu tun haben. Immerhin erfanden die Briten „eine private und demokratische Planwirtschaft“ (S. 14). Was für eine geniale Begriffsschöpfung! Der Staat steuert die Produktion und Verteilung knapper Güter, die Firmen bleiben aber in privater Hand. Also eine sozialistische Planwirtschaft in grün oder Sozialismus lite. Die Farben der Masken und Spritzen für das Volk können dann immerhin die Firmen entscheiden. Das war in der sozialistischen Planwirtschaft anders, das stimmt.

Doch Ihre Gedanken haben ihre Berechtigung. Genau wie Dr. Nehls bewegt sich Ulrike Herrmann innerhalb ihrer Weltdeutung und dort stimmt alles. Dort hat sie recht. Dort ist alles alternativlos. Hat man also ordentlich Angst gemacht, die Jugend gegen Erwachsene aufgestachelt und von einer radikalen, aber (was sonst) alternativlosen „Sicht auf die Zukunft“ (S. 13) gepredigt, erscheint die Lösung sogar plausibel. Wie die Erziehungsmaßnahmen der Covid-Politik uns gelehrt haben: wenns brennt, da muss die Feuerwehr kommen und löschen! Ist halt so, basta! Da diskutiert man nicht, wenn 99,9% der Wissenschaftler sagen, was Sache ist! Ein Glück, dass halbwegs aufgeklärte Menschen etwas von der Wissenschaftskritik verstehen und wissen, dass solche Aussagen und solch eine suggerierte Alternativlosigkeit vollkommen wissenschaftsfern sind. In solchen Rettungsparolen und dogmatischen Lösungen haben wir also die katholische Kirche 2.0 im pseudowissenschaftlichen Gewandt. ist das der Fluch der misslungenen Aufklärung? Eine Erklärung dafür zu liefern würde das schon ausgedehnte Thema vollkommen sprengen, aber ich kann auf den Kritischen Bildungskreis verweisen. Dort wird man bald eine Handreichung über die Gesellschaftskritik erwerben können.

Eine Ode an den Kapitalismus

„Das Ende des Kapitalismus“ entfaltet erst einmal eine Ode an sich selbst, bevor es in der neuen ‚deutschen Kriegswirtschaft‘ (für die Klimarettung und gegen all die Egozentriker, die sie zerstören) aufgehen darf. Ulrike Herrmann erzählt wie gut es den Industrieländern in Bezug auf Gesundheit, Wohlstand und technische Erfindungen geht (da hat sie auch recht). Kapitalismus ist (erstmal) ein Segen. (S. 22). Bemerkenswert ist, dass Herrmann den Kapitalismus als ein „totales System“ bezeichnet, da es „nicht nur die Wirtschaft, sondern das gesamte Leben“ durchdringt (S. 23).

Das erste Bemerkenswerte dabei ist, dass die „britische Kriegswirtschaft“ oder die ersehnte ’neue deutsche Kriegswirtschaft‘ demnach kein totales System sein soll. Was ist denn noch totaler? Eine direkte Diktatur als Pendant zur direkten Demokratie? Das zweite Bemerkenswerte ist, dass Herrmann ein abstraktes oder naives Verständnis vom Staat entfaltet. Es gibt bei ihr die Wirtschaft und den Staat. Wenn Kapitalismus aber ein totales System sein soll, was soll denn ‚der Staat‘ sein? Ganz recht, er ist ein Teilbereich der Wirtschaft. Wie ein Soziologe in Bezug auf die medial gespielte Demokratie mal sagte (habe leider den Namen nicht parat, vermutlich vermische ich da sogar zwei): die Rolle der Politik ist es, wirtschaftlich gefällte Entscheidungen durch mediale Pseudoereignisse zu legitimieren. ‚Der Staat‘ ist als solcher also gar nicht existent, außer als ein rechter, linker oder sonst welcher Arm des Kapitalismus. Genau das ist das Totale des Kapitalismus: Vorne wird Demokratie gespielt, hinten werden Entscheidungen gefällt. Das Eine ist vom anderen systematisch entkoppelt. Darüber mag Ulrike Herrmann wohl nicht sprechen. Ich bezweifle aber, dass sie darüber nicht weiß oder mir an diesem Punkt grundsätzlich widersprechen würde. In Ihrem System steht in der „britischen Kriegswirtschaft“ der abstrakte rettende Staat dem Kapitalismus gegenüber. Wissenschaftlich gesagt liegt hier eine Inkongruenz vor, eine Nichtübereinstimmung im Gedankengang. Und diese Dissonanz macht ihre ganzen weiteren Ausführungen absurd denn sie baut auf ‚den Staat‘.

Genau deswegen kommt Herrmann auch folgerichtig, aber im inkongruenten Gedankenkonstrukt (also innerhalb einer Ilusion) auf „die Demokratie konnte sich daher erst durchsetzen, als die Industrialisierung schon ziemlich weit gediehen war“ (S. 25). ‚Die Demokratie‘ kann innerhalb des totalen Kapitalismus lediglich als ein Märchen oder soziologisch ausgedrückt als eine Verschleierung kapitalistischer Totalität gesehen werden. Sie kann gar nichts anderes sein, weil die totale Durchdringung der Gesellschaft durch neoliberale (kapitalistische) Strukturen gar keine Demokratie als Realität beinhaltet. Diese ist entkoppelt und spielt nur für die Bürger*Inninen eine Rolle. Der totale Kapitalismus hat schon lange jegliche politische und nationale Grenzen verlassen, er agiert global in von ‚Demokratie‘ und Nationalstaaten emanzipierten eigenen Strukturen. Auch hier bezweifle ich, dass Ulrike Herrmann das nicht weiß.

Auch bezweifle ich, dass Frau Herrmann nicht weiß, dass Kapitalismus bzw. seine Akteure und Akteurkreise nie und niemals irgendeinen ‚Wohlstand für alle‘ als Ziel hatten. Es mag die klassische Floskel vom Fahrstuhleffekt bekannt sein, die in den 50ern so präsent war: wenn Reiche reicher werden, werden die Armen auch reicher. Die Realität des Kapitalismus baut jedoch stets auf Ausbeutung derjeniger, die nicht gut, nicht schnell, nicht schlau genug sind. Zu bedauern also, dass trotz der großartigen Errungenschaften des Kapitalismus „die Ungleichheit in der Welt immer noch extrem groß ist und nicht alle Menschen gleichermaßen vom Kapitalismus profitieren“ (S. 26) ist zumindest seltsam. Es war nie das Ziel des Kapitalismus, dass alle gleichermaßen davon profitieren.

British Empire als Erfinder des Wachstums

Doch es wird noch spannender. Es folgt eine durchaus interessante Beschreibung wie British Empire das Wachstum erfunden hat. Ulrike Herrmann stellt ersthaft die Frage: „Aber warum waren die Engländer so wohlhabend, noch bevor die Industrialisierung einsetzte?“ (S. 35). Dann geht es um die Pest, den internationalen Handel, die Kohle, das „erstaunliche Phänomen“ des hohen Durchschnittslohnes (S. 37). Es ist noch kein Wort davon, dass vielleicht der Wohlstand von Engländern etwas damit zu tun hatte, dass es ein British Empire bereits seit dem 17. Jhd. gegeben hat.

Urplötzlich traf dieses englische Wunderwachstum die Inder. Ihre Baumwolltücher waren „nicht mehr konkurrenzfähig“ (S. 51). „Indien war in einem Paradox gefangen: Die Löhne waren niedrig, und genau deswegen wurde es noch ärmer. Bei den geringen Arbeitskosten lohnte es sich einfach nicht, teure Maschinen zu beschaffen“ (S. 51). Sowas. In dieser Geschichte existiert die Tatsache nicht, dass (B)EIC (british east india company) seit 1600 aufgrund von noch zu geringer lokaler Macht dort zuerst Handel betrieb und spätestens ab 1760 zur führenden politischen und militärischen Macht in Indien aufgestiegen ist. War das ‚indische Paradoxon‘ vielleicht gar nicht so paradox, sondern recht banal?

Wir haben schon ein paar Kapitel vorgespult und auch auf der Seite 62 existiert noch kein British Empire als das größte Kolonialreich der Geschichte (!). Es heißt dort: „Die Länder im globalen Süden befinden sich heute in einer Situation, die an Deutschland oder Frankreich zu Beginn des 19. jahrhunders erinnert. Sie müssen versuchen, den technologischen Abstand zu verringern, der sie von den Industrieländern trennt“. Doch diese Länder können den Kapitaleinsatz nicht aufbringen. Es wäre mir neu, dass Deutschland und Frankreich zum englischen Kolonialreich gehörte. Der globale Süden hatte damit allerdings einiges zu tun. Dieser Hohn wird noch übertroffen!

„Die Kleiderindustrie nutzt deswegen keine Maschinen, weil die Löhne in den armen Ländern so niedrig sind“ (S. 63). Es lohnt sich die Investition also nicht, wenn sie es per Hand billiger machen. Und jetzt kommts. „Dieser Teufelskreis lässt sich nur durchbrechen, wenn der Staat einsteigt“ (S. 63). Die gleiche Inkongruenz (merkt euch dieses Wort, ihr könnt viele damit beeindrucken!) springt hier wieder ins Gesicht. ‚Der Staat‘, welcher als Kolonialreich den Briten gehörte, hätte die Inder retten sollen. Also die Briten, die die Inder regierten, hätten den Briten, die in Indien die Leute ausbeuteten, einen Riegel vorschieben sollen, indem sie „die Industrialisierung zentral steuer[n]“ (S. 63). Es ist so absurd, dass es fast amüsant ist (wären die Folgen nicht so grauenhaft). Der Bock hätte einfach mal statt Gras zu essen, Gras pflanzen sollen! Der Bock hat aber Kolonie nach Kolonie abgegrast.

Dann geht es noch darum, dass es fast unmöglich ist, dass der globale Süden den „reichen Norden“ noch technologisch und ökonomisch einholen wird (S. 66). Immer noch kein Wort über die maßlose Dominanz, Unterdrückung und Ausbeutung des British Empire! Und auf Seite 67 kommt etwas sehr Interessantes, welches wieder an Klaus Schwab erinnert – die Liebe zu China. „Man muss die Wirtschaftsförderung angehen wie China, wo der Staat lenkt…“. China hat wirklich eine großartige Politik, die mit Menschenrechten glänzt! Vielleicht haben manche durch die Covid-Politik einen chinesischen Touch gespürt. Er ist nicht zufällig.

Der kapitalistisch-unschuldige Höhepunkt kommt mit dem Satz: „Europa und die USA können nichts dafür, dass sie sich zuerst industrialisiert haben und es den Nachzüglern nun so schwerfällt aufzuholen. Es ist ein historischer Zufall, dass der Kapitalismus überhaupt entstanden ist“ (S. 67). Wow! Der Herrmannsche Kapitalismus-Mythos mit beinahe kindlicher Ausdrucksweise ist da. Es gab und gibt keine Machtzentralisierung, keine Ausbeutung. Aber nein, es werden Hilfemaßnahmen postuliert: weltweiter Mindestlohn für die Näher*Inninen in Bangladesch und Co. und Abschaffung der Steueroasen. Halblebige ‚Lösungen‘ der Verschleierung wirklicher Herkunft dieser Problematik im Stil von „Brot für die Welt“ und „Suppe für Kinder in Afrika“.

Die unrentablen Sklaven

Ulrike Herrmann kommt doch noch zu einer gewissen Problematik von British Empire – die Sklaven. Denn „es liegt nahe zu glauben, dass der Kapitalismus zwingend auf Ausbeutung beruht [aber es ist natürlich nicht so]. Denn die englische Industrialisierung setzte just in dem Moment ein, als Millionen von Sklaven aus Westafrika nach Süd- und Nordamerika verschifft wurden“ (S. 70). Dann dreht es sich alles nur noch um Sklaven, als ob das British Empire keine Rohstoffe geplündert und keine geopolitischen Vorteile aus ihren ‚Bezirken‘ gezogen hat. Die meisten Sklaven waren lediglich für die Herstellung von Luxusgütern da und hatten keinen Anteil an der Industrialisierung (S. 72). Die Gewinne der Plantagen machten nicht wegen den Sklaven, sondern trotz der Sklaven hohe Gewinne, weil die Sklaven kostspielig waren (S. 73). „Ausbeutung macht nicht reich“ (S. 73) schreibt Herrmann, vergisst dabei aber, dass die Ausbeutung einen sehr guten Start gibt. Danach folgt die klassische kapitalistische Optimierung. Rohstoffe für British Empire werden nur im Sinne „unwichtiger südamerikanischer Silberfunde“ (S. 77) erwähnt. Dass „die Rohstoffe der ganzen Welt ausgebeutet“ wurden, bezweifelt Herrmann allerdings nicht (S. 76). Ist es also nicht eine sehr verkürzte Darstellung, wenn man den Aufstieg von British Empire und die einsetzende Industrialisierung nicht in Zusammenhang mit dem gleichnamigen Kolonialreich und seinen Vorteilen bringt? Denn auf Seite 81 wird dennoch die Schuld der Europäer an der systematischen Unterdrückung der Kolonien erwähnt, um im nächsten Absatz vom „sinnlosen Imperialismus“ zu reden. Inkongruenz lässt grüßen. Britischer Imperialismus hatte durch und durch Sinn, den Sinn der Machtzentralisierung und Ausbeutung. Man bekommt hier das Gefühl nicht weg, dass Ulrike Herrmann sich keine ernsthafte Kritik über das British Empire erlauben will. So wie man die USA nicht für ihren Imperialismus bzw. Amerikanischen Exzeptionalismus kritisieren darf. Liegt hier tatsächlich dieser Narrativ vor? Ich meine durch und durch.

Beim Abschluß des sechsten Kapitels kommt noch einmal die absurde Trennung von Staat und Kapitalismus. Kriege sind laut Herrmann nicht lohnenswert. Die US-Invasion in den Irak war für die USA sehr kostspielig (S. 83). Warum haben gerade die USA kaum ein Jahr ihrer Geschichte ohne Krieg verbracht? Weil die USA blöder als Frau Herrmann sind oder weil Frau Herrmann hier doch etwas marginalisieren (für unwichtig erklären) will? Nein, Frau Herrmann geht es um einen Friedenskapitalismus (wohl durch Staatslenkung) denn „der Kapitalismus hat die Demokratie ermöglicht – und lässt sich demokratisch steuern“ (S. 84). Derartige Naivität kann ich Frau Herrmann gar nicht vorwerfen. Wer bisher die fortwährende Unstimmigkeit (Inkongruenz) in den Gedankengängen dieses Buches nicht entdeckt hat, wird sich zunehmend in dem Hin-und-her der Darstellungen verlieren. Wir überspringen die Kapitel über das zwingende Wachstum des Kapitalismus, die furcherregende Zerstörung der Welt für den Wohlstand. Auch überspringen wir die Widerlegung des „grünen Wachstums“, das „ökologische Notstandsregime“, welches Frau Herrmann gut findet (S. 182) und landen beim…

Ende des Kapitalismus

Frau Herrmann entfaltet geradezu eine Glückseeligkeit der Selbstbeschränkung bzw. des ökologischen Notstandsregimes oder auch der ’neuen deutschen Kriegswirtschaft‘. Die Glücksforschung hat letztendlich bewiesen, dass das Geld nicht glücklich macht und es könnte ja auch befreiend sein „dem permanenten Wachstum zu entkommen“ (S. 203). „Klimaneutrales Leben [kann] auch schön sein“ (S. 214). Die frühere Maxime ‚Wohlstand für alle = Glück für alle!‘ gilt nicht mehr. Selbstbeschränkung ist der neue Wohlstand! Die Gedanken an das Absurde des ewigen Wachstums sind nicht verkehrt, die Frage ist allerdings, ob die Selbstbeschränkung für alle gilt und ob man diejenigen, für die sie gilt, schlicht zu ihrem ‚Glück‘ zwingen will. Denn die Predigt über die Selbstbeschränkung betrifft letztendlich die unteren Schichten. Die (politische, ökonomische, journalistische etc.) Elite fährt weiterhin dicke Karossen, fliegt Privatflugzeuge und diniert auf Staatskosten oder aus dem üppig gefüllten eigenen Geldbeutel. Die Adelsgesellschaft scheint wieder in Mode zu kommen. Willkommen in der Re-Feudalisierung. Frau Herrmann predigt hier also kaum für die Elite, hier geht es ums gemeine Volk.

Wir überspringen das Versagen der Ökonomen und kommen zu der bereits in der Einleitung erwähnten Herrmannschen Lösung – der „britischen Kriegswirtschaft“. Denn „Zum Glück bietet die Geschichte ein Vorbild… wie sich eine klimaneutrale Welt geordnet anstreben ließe“ (S. 226). Es ist eben die gute „britische Kriegswirtschaft“, die ganz glorreich in dem entsprechenden Kapitel beschrieben wird. Dieses wird mit dem Satz besiegelt: „Denn selbst in normalen Zeiten spielt der Staat eine tragende Rolle, weswegen es jederzeit möglich wäre, wieder in eine Art Kriegswirtschaft zu wechseln, um das Klima zu retten“ (S. 242). Kriegswirtschaft über alles. Für die Weltrettung natürlich.

„Wie wir in Zukunft leben werden“

Ganz im Sinne von Harari oder Schwab ist Herrmann lediglich die Beschreiberin der ‚Tatsachen‘, sie propagiert nicht, sie beschreibt. Das fehlende Vertrauen in den Staat ist „grundfalsch, wie zuletzt die Coronakrise zeigte“ (S. 243). Das zeigte sie vielleicht Frau Herrmann. Sehr vielen Menschen zeigte diese Politkrise genau das Gegenteil – dem Staat ist nicht zu trauen. Für Frau Herrmann mögen all diese Menschen wahrscheinlich Idioten sein. Zumindest sind sie ganz sicher „grundfalsch“. Auch hier gibt es von Frau Herrmann keine differenzierte kritische Diskussionsgrundlage, sondern die gewohnte neudeutsche oder altdeutsche (je nach Sichtweise) Alternativlosigkeit. Ganz konsequent erträumt Frau Herrmann immer weiter den von der Wirtschaft entkoppelten ‚Staat‘, der ‚das Gute‘ vorgeben soll. Sie erwähnt zwar jetzt, dass im globalen Norden vor allem „die Wohlhabenden“ verzichten müssen, es geht an ihren „flotten Lebensstil“ (S. 249). Doch realistisch betrachtet (auch mit Blick auf China) sind all die Vorgaben für ‚unsere Zukunft‘ sehr weit davon entfernt, den „flotten Lebensstil“ der Elite irgendwie ernsthaft zu beschränken. Auch wenn Frau Herrmann theoretisch „alle gleich belaste[n]“ will (S. 249), entbehrt ihre inkongruente Darstellung der Realität entsprechender ökonomischer Machtverteilung. Im modernen infantilen Erziehungsstil gegenüber Erwachsenen (Stichwort: Corona-Politik, Plakate und Co.) heißt es weiter „Gerechtigkeit macht glücklich“ (S. 253). Es hat etwas von „Sendung mit der Maus“.

Die Krönung des steuernden Staates wird noch überboten, indem dieses Abstraktum mit einem noch größerem Abstraktum abgelöst wird – der Natur. Denn „künftig bestimmt die Natur, wie viel Wachstum möglich ist“ (S. 255). Dass ‚die Natur‘ von entsprechenden wissenschaftlichen Machtpositionen bestimmt wird, das erwähnt Frau Herrmann nicht. Ihr abstraktes Herrschaftsgebilde ‚der Staat‘ wird also mit ‚der Natur‘ noch überboten! „Viele Menschen hängen immer noch dem Irrtum an, dass sie die Wahl hätten“ (S. 256). Frau Herrmann, bzw. verzeihung, die Natur, lässt niemandem eine Wahl. Es ist alles entschieden. ‚Die Natur‘ hat entschieden.

„Überlebenswirtschaft“ am Ende des Kapitalismus

Die „britische Kriegswirtschaft“ bekommt am Ende noch einen polemischen Namen – „Überlebenswirtschaft… denn es geht um die Rettung der Menschheit“ (S. 257). Wer kann da schon nein sagen? Es geht ja um nicht weniger als um die effiziente Verwaltung von Humanmassen, da kann man nicht aus der Reihe tanzen. Nach dem wiederholten Bekräftigen des realitätsfernen Demokratiemärchens: „Parteien führen nicht, sondern folgen ihren Wählern“ (S. 259), kommt noch einmal der ‚gute Staat‘ zur Geltung. Denn der Staat allein kann „für eine gerechte und effiziente Verteilung sorgen“ (S. 260). Ganz am Ende gibt es noch erneute infantile Beruhigung. Man muss sich „die Zukunft nicht trübe vorstellen. Eine ökologische Kreislaufwirtschaft [britische Kriegswirtschaft] kann schön sein“ (S. 262). Es ist ganz im transhumanistischen Sinne, Lebensgenuss als Garantie ist geboten, ein rücksichtsvoller Hedonismus für zufriedenes fremdverwaltetes Vieh, welches nur Angst, Fügung und Befriedigung kennt.

Fazit meinerseits

Wenn das Tierische im Menschen zu regieren anfängt, dann funktioniert alles nach dem Muster „Schreckensszenario -> Angst -> Überlebens- und Selbsterhaltungstrieb -> Anerkennung ‚rettender Herrschaft‘.

Vieles mag thematisch zutreffend sein: Kapitalismuskritik, welche Frau Herrmann eigentlich weitgehend auslässt, die Rücksichtslosigkeit gegenüber der Natur, auch Sharing-Gemeinschaften und das Umdenken des Besitzes sind keine grundsätzlich verkehrten Gedanken. Doch der Teufel steckt bekanntlich in Details, die das Zutreffende für sich zu nutzen wissen. Frau Herrmann will ein paar zutreffende Gedanken gesellschaftlich erzwingen und andere verschleiern (ob bewusst oder unbewusst). Damit kann „Das Ende des Kapitalismus“ genau so wenig wie „Das erschöpfte Gehirn“ (Dr. Nehls) etwas Gutes zur Gesellschaftsproblematik beitragen, denn sie rechnen nicht damit, dass unsere Gesellschaftsproblematik lediglich ein Symptom unserer geistlosen dehumanisierten Menschheit ist. Sie wollen sich nicht zu einem ernsthaft humanen Menschenbild durchringen, sondern lediglich eine Tiergerechte Fremdverwaltung oder auch Selbstverwaltung (bei Dr. Nehls) fördern oder installieren. Sie schwimmen demnach ganz im Strom der Zeit, welcher von mir im Artikel über „das erschöpfte Gehirn“ beschrieben worden ist. Sie fördern lediglich den aufkommenden Transhumanismus.

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