Vor einer längeren Zeit wurde ich gefragt, ob ich denn nicht etwas über das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland schreiben möchte. Damals gab es noch keinen Krieg in der Ukraine, außer dem Putsch und die darauffolgende militärische Auseinandersetzung mit den abgespaltenen Gebieten (Donezk, Lugansk). Das westliche Narrativ, welches von Wikipedia (Sitz in USA), über die privaten Medien der Atlaktikbrücke, bis zur darin enthalteten deutschen Staatsmedien stets das gleiche Bild zeichnet, ist bekannt: der freie Westen kämpft voller Aufrichtigkeit (mal wieder) gegen ein diktatorisches Regime, welches stets hasserfüllt Menschenrechte verletzt und immer mehr an sich reißen will. Da die Thematik sehr komplex ist und das Studiumsprojekt (www.kritischer-bildungskreis.de) seine Zeit gebraucht hat, schiebe ich dieses Thema bereits eine Weile vor mich hin. Wobei ich bereits aufgrund meiner Biografie und der Auseinandersetzung mit beiden politischen Regimes und Kulturen diesen thematischen Beitrag schon länger leisten wollte.
Die Begegnung im Wald
So bin ich nichts ahnend letzte Woche im Wald spazieren gelaufen. Diskussionen über dieses Thema habe ich längst gelassen, da ich seltenst Menschen traf, die zu einer sachlichen Diskussion gewillt und fähig waren (wie bei der Corona-, Klima und Genderthematik ebenfalls). Der Nachmittag war fortgeschritten, kalt, bewölkt und menschenleer. Natur und Ruhe genießen. Flüchtiger Gruß an einen entgegen kommenden Spaziergänger mit seinem Hund und weiter geht die ausgedehnte Runde durch den Winterwald. Doch kurz drauf die Überraschung. Der Spaziergänger drehte ebenfalls die große Runde und wir trafen uns wieder. Es entstand ein netter Plausch über die Natur, das Wetter, die meckernden Menschen und die fehlende Bewegung. Bis die Tatsache herauskam, dass ich (Weiß)Russe bin. In einem fortwährenden Schwall ergoss sich die einseitige Kommunikationslust des unbekannten Herren, wenn nicht über mich, dann wenigstens an mir vorbei. Der Putin, Russland, die Russen, Diktatur, der Krieg, der freie Westen, alles durchgehend bestärkt mit einem „Ist doch so!“, „das ist doch Fakt!“ und „die meisten dort sind ja dagegen!“. Ich lächelte müde dahin, wartete den Redeschwall ab und versuchte eine Pause zu erwischen, damit ich ebenfalls etwas zum Thema sagen konnte. Es kam keine.
Nach einer Weile traf ich die Entscheidung mich der Situation anzupassen und die Art des Gegenübers teilweise zu übernehmen. Ansonsten hätte ich mich einfach umdrehen und gehen können. Wenn aber das Schicksal eine derartig plötzliche Begegnung mitten im Wald kreiert, konnte ich sie kaum unangetastet lassen. Also fiel ich dem Redeschwall punktuell ins Wort und versuchte etwas Differenzierung in den Turbovortrag über den freien Westen und den Teufelsputin zu bringen. Doch meine Einwände zu der einseitigen, westlich abgeklärten Sicht und die Betonung einer recht komplexen Problematik (mindestens) zweier Machtblöcke schienen vollkommen sinnlos. Der Herr mit dem Hund redete einfach durch. Ich schien in seiner Welt nicht vorhanden zu sein. Seine aufrichtige und korrekte Botschaft an die Welt stand ohne Zweifel im Vordergrund. Der Mann war gut informiert, wie er immer wieder betonte.
Die Ruhe verließ mich zunehmend. Durch den Redeschwall des aufgeklärten Herren sagte ich, was ich sagen wollte. Die Kurzversion meiner Botschaft drehte sich um einen eingebildeten guten Westen, welcher die Schuld für alle Eskalationen immer in ‚bösen Regimes‘ sucht, die die ganze gute Welt bedrohen. Der Feind ist immer klar. Die Eigenbeteiligung an Eskalation nie vorhanden. Die eigenen Taten dagegen immer moralisch und sachlich richtig. Gleichzeitig ist dieser ‚Westen‘ bodenlos ungebildet was sein eigenes Regime angeht. Er wähnt sich in Illusionen von Freiheit, Demokratie, faktischer Wissenschaft und gutem Fortschritt, ohne eine Vorstellung davon zu haben, dass diese Floskeln zwar höchst einschläfernd, aber gewiss sehr wenig mit Wirklichkeit zu tun haben. Dennoch reicht es noch aus, um fortwährend ein „na das ist doch noch besser als drüben!“ von sich zu geben. Und das, obwohl die Idee und die Praxis zur Gesellschaftskritik, zur Macht- und Medienkritik gerade in Deutschland mehr oder weniger geboren worden ist. Recht aufgeregt verließen wir einander, um uns noch einmal zufällig (zum dritten Mal) auf dem Parkplatz flüchtig zu begegnen. In einem erneuten Gesprächsversuch sahen wir beide wohl keinen Sinn.
Warum erzähl ich diese scheinbar belanglosen Vorgänge recht genau? Weil sie beispielhaft für den Konflikt zwischen… nein, nicht zwischen West und Ost stehen, sondern zwischen Westen und Russland. ‚Der Osten‘ im modern-chinesischen Sinne wird in der westlichen Welt mittlerweile sehr fleißig implementiert. Die politische Coronaideologie hat dies für Menschen mit wachem Verstand sehr deutlich gezeigt. Auch die Bestrebungen um „smart City“, „gaya X“ etc. sind ‚(modern)chinesische Kinder‘. ‚Das Russische‘ scheint aber etwas zu sein, was zumindest im Archetyp eines Putins zu bekämpfen gilt. Was liegt hier also vor?
Die Banalität westlicher Pseudoaufklärung
Im Westen wie auch in Russland selbst ist das Gerede über die russische Korruption, fehlende Demokratie, Oligarchie, Unterdrückung mancher Ansichten, naive Sowjet-Nostalgie etc. mehr oder weniger an der Tagesordnung. Es sind zwar einige rückwärtsdenkende Nostalgisten vorhanden (der Sowjetspuk, welcher nicht ohne westliche Unterstützung installiert wurde, war ja bekanntlich eine lange Zeit die einzige Selbstdefinition), aber es ist vollkommen banal einem Russen, Weißrussen, Ukainer oder einem anderen Beteiligten der ehemaligen Sowjetunion diese ‚Weisheiten‘ zu verkünden. Der ‚aufgeklärte Wessi‘ (verzeihen Sie mir die Polemik) fühlt sich in seiner Aufklärungsmission allerdings beflügelt. Letztendlich hat er ja die Oligarchie in Russland entdeckt! Dass die Russen und ehemalige Sowjetstaaten durch die chaotischen 90er gegangen sind, in kürzester Zeit die langjährige Mafiaevolution der USA und Italien nachgeholt haben und zwischen der 70jährigen kommunistischen Misshandlung und der Postmoderne keine Zeit hatten an die Märchen von Demokratie, politischer Freiheit und Führer-Aufrichtigkeit zu glauben, das ist dem ‚gebildeten Wessi‘ wohl nicht bewusst. Ihn interessiert die (natürlich bösartige) Geschichte anderer Kulturen nicht. Er hat eine aufrichtige Mission! Die meisten ehemaligen Sowjetangehörigen haben bei all diesen pseudoaufklärerischen Entdeckungen schon lange einen Punkt gesetzt. Der Status Quo ist ihnen lang bekannt. Sie wissen es! Nur der ‚freie Westen‘ scheint für sich die ‚russische Unkultur‘ zu entdecken und predigt darüber.
Kaschierter Selbsthass der ‚Russen‘
Meine Muter meinte mal, wenn einer in Russland an die Macht kommt, wird er immer klauen und sich bereichern. Unter ‚Russland‘ waren selbstverständlich alle ehemaligen Sowjetstaaten gemeint. Das wollen zwar die meisten ‚aufgeklärten Wessis‘ nicht verstehen. Sie sehen darin gleich die Russifizierung, aber das kulturelle Russland (Sowjetunion oder auch die von Kiew über Petersburg bis nach Sibirien chaotische Geschichte Russlands) ist nun mal etwas anderes als das politische Russland. Das politische Russland meinte meine Mutter gewiss nicht. Viele nicht zum politischen Russland gehörigen Staaten haben eine mehr oder weniger gemeinsame kulturelle Geschichte. Man kann es gut oder schlecht finden, aber es müsste als eine Tatsache konstatiert werden. Man kann den Panslawismus, die Russifizierung kritisieren und die erwähnte kulturelle gemeinsame Geschichte als das Resultat dieses Bestrebens betiteln. Die Tatsache der kulturellen Gemeinsamkeit (seien sie auch in vieler Hinsicht künstlich hergestellt worden) über politische Grenzen hinweg wird man damit nicht leugnen können. Wenn meine Mutter also über einen stets korrupten Russen an der Macht redet, dann meint sie damit auch einen Weißrussen, Ukrainer, Kasachen, Georgier und so weiter. Und sie steht damit nicht alleine. Diese Ansicht kann als archetypisch in den ehemaligen Sowjetstaaten bezeichnet werden. Auch wenn der nationale Stolz in einigen postsowjetischen Staaten eine stark antipathische Bestrebung gegenüber jeglichen Gemeinsamkeiten ausbildet, kann man die Gemeinsamkeiten (allerdings auch die kulturellen Unterschiede, die in der Sowjetzeit überall glattgebügelt wurden) nicht leugnen.
Das, was die Vertreter der Ansicht über den korrupten ‚Russen‘ (damit meine ich künftig den kulturellen, nicht den politischen Russen, den man auch als Postsowjet bezeichnen könnte) allerdings nicht gerne verstehen, ist, dass es ein kultureller Selbsthass ist. Denn wenn potenziell jeder ehemalige Sowjet, der an die Macht kommt, korrupt und asozial ist, ist man es zwangsläufig auch selbst.
Dieser Selbsthass der Russen erübrigt sich allerdings nicht in dem Vorwurf der Korruption, sondern auch in einem diffusen Grundsatzgefühl gegenüber einer gewissen Rohheit ehemaliger Sowjets. Denn bei ehrlicher Reflexion kann durchaus behauptet werden, dass die ‚Russen‘ trotz ihrer Kultivierung durch Peter den Großen eine recht rohe und raue Natur in sich tragen. Positiv betrachtet bringt diese Rohheit eine unvermittelte Ehrlichkeit und emotional offene Jugendkraft. Diese Seite kann allerdings je nach Lebenskontext (und das Leben postsowjetischer Staaten ist meist recht hart im Vergleich zu dem, was westlicher Wohlstand genannt wird) schon im Kindesalter in eine rohe Gewalt und Unmenschlichkeit umschlagen. Die zweite große Säule des ‚russischen‘ (postsowjetischen) Selbsthasses richtet sich also gegen diese Rohheit. Solch rohe Menschen nennt man in postsowjetischen Staaten (zumindest dort, wo die russische Sprache noch gängig ist) Bydlo. Was übersetzt so etwas wie Unmensch bedeutet. Rohheit und Korruption sind also die tragenden Säulen des ‚russischen‘ Selbsthasses.
Die Ambivalenz der ‚russischen‘ Seele
Gleichzeitig muss man betonen, dass die ehemaligen Sowjets schon immer in den Westen wollten. Wer die Chance hatte abzuhauen, ergriff sie meist auch. Wohlstand und Freiheit war für den ‚Ossi‘ stets anziehend. Natürlich gibt es und gab es immer eine Menge von ideologieergebenen Sowjets, die nostalgiegeprägt und zukunftslos andauernd zurück blicken, um dort ihr Selbstverständnis zu finden. Doch diese können nicht als das Grundgerüst postsowjetischer Gesellschaft bezeichnet werden, da diese Gesellschaft ansonsten gar nicht zerfallen wäre. Sie ist gerade (unter Anderem) aufgrund dieser Ambivalenz und entsprechenden Machtkämpfen zerfallen, die diese Ambivalenz zu nutzen wussten.
Archetypisch könnte man also sagen, dass ‚der Russe‘ seine Rohheit und Korruption hasst und sich derart damit identifiziert, dass er von der eigenen (Un)Kultur Abstand nehmen will, ja, sie vernichtet sehen will. Die eher unbewussten kulturellen Jugendkräfte ganz eigener Art lassen aber doch die meisten von ihnen in einer starken emotionalen Verbundenheit mit der eigenen diffusen Kultur leben. Diese Ambivalenz durchzieht die kulturell russische Seele.
Was hätte ‚Russland‘ gebraucht?
An diesen beiden oft ins Gesicht springenden Unqualitäten postsowjetischen kulturellen Raums (Rohheit und Korruption) ist durchaus einiges dran. Um dies zu reflektieren, müsste man die sehr komplexe kulturelle Entwicklung dieser gigantischen Gebiete betrachten. Daraus kann hervorgehen, dass die postsowjetischen Gebiete sehr wohl die kulturelle Anregung aus Europa brauchen, um die positive Seite der eigenen Kultur zu fördern. Doch nicht im Sinne einer Überflutung mit dem, was man hier erlogenerweise ‚Freiheit, Wohlstand und Demokratie‘ oder ‚westliche Werte‘ nennt, sondern mit dem, was selbst in Europa weitgehend erdrückt worden ist – eine wirkliche geistig-kulturelle Bildung.
Wenn Europa die eigene geistige Kultur nicht mit ökonomischer und später technokratischer Ideologie erdrückt hätte, hätte sich das kulturell Russische ganz anders entwickeln können. Einerseits braucht der postsowjetische Raum diese geistige Kultur zur Anregung, andererseits braucht es unbedingt den Erhalt und die Weiterentwicklung eigener Kultur, die Wertvolles, aber bisher Unerkanntes, eher diffus Gefühltes in sich trägt.
Die westlichen Exportgüter
Doch was bekommt das kulturelle Russland von Europa und USA (welches aus Europa hervorgegangen ist) stattdessen? Sie bekommt einerseits die Überflutung mit ökonomischer Ideologie, die den Menschen auf Homoökonomikus reduziert, die Ideologie des in die Bequemlichkeiten des Wohlstands kleidenden Scheins, welcher die eigentlichen Politik-, Wirtschafts- und Bildungsbestrebungen geschickt zu verdecken weiß und letztendlich die mechanistisch-materialistische moderne Technokratie, mit ihren transhumanistischen Idealen (dazu gerne der Artikel über das smart-living). Das sind womöglich die wichtigsten und größten Exportgüter des sogenannten Westens.
Solange man die kulturellen Übergänge beim Zerfall von UDSSR und auch DDR nicht diesbezüglich genau betrachtet, würde man davon ausgehen, dass die oben genannten Punkte sich gleichermaßen überall auf der Welt entwickeln. Doch weiß man, mit welchem Fanatismus die Postsowjets diese Exportgüter gerade in den 90ern aufgesogen haben, kann man durchaus erleben, dass diese Güter kaum als natürliche Anlagen russischer bzw. postsowjetischer Kultur bezeichnet werden können. Die ‚Russen‘, wie auch die Chinesen kopieren den westlichen Lebensstil mit einem gewissen hang zur Übertreibung. Gerade die Chinesen, die mit den ‚Russen‘ ihre asiatischen Wurzeln teilen, sind und vor allem waren Meister des Kopierens, bis sie sich so weit entwickelt haben, um aus diesem Wissen eigene hoch qualitative Produkte zu schaffen. Wenn in den 90ern Mobiltelefone unter die Verbraucher kamen, dann musste ein etwas von sich haltender ‚Russe‘ nicht ein Telefon, sondern gleich zwei oder drei besitzen (gewiss auch für zwielichtige Zwecke). Es musste nicht eine Goldkette, sondern die dickste Goldkette sein; nicht ein Eigentumshaus, sondern eine Villa; nicht ein Auto, sondern ein gepanzerter 600er Mercedes. Ein Postsowjet wird mich gleich verstehen, was ich unter dieser Übertreibungskraft der Westen-Imitation meine.
Würde das Westeuropa ernsthaft humanistische, geistdurchdrungene, menschengerechte ‚Exportgüter‘ fördern, wäre der Effekt womöglich ähnlich, das Resultat allerdings grundverschieden. Doch Westeuropa hat ihre wirklich humanistischen, geistdurchdrungenen Anlagen nicht verwirklicht, so kann sie auch nur das exportieren, was dem ‚Lauf der Dinge‘ wie einem Toilettenabfluss entspricht.
Es bedeutet nicht, dass Westeuropa schuld an der russischen (und vielleicht chinesischen) Entwicklung sei. Schuld ist jeder Individuum an seiner Entscheidung selbst. Sie ist aber ganz zentral für die kulturelle Entwicklung der modernen Welt mitverantwortlich. Es ist nicht die erlogene Floskel der auf dem Papier vorhandenen Demokratie, gut platzierter Menschenrechte, technokratischer und transhumanistischer Klimarettung und der akribischen und bürokratischen Sorge um die Relativierung jeglichen Geschlechts und Sexualitätsverständnisses welche ‚der Osten‘ gebraucht hätte, sondern das, was ‚der Westen‘ in die Toilette seiner Ungeistigkeit gespült hat. Westeuropa ist nun mal ein weltweiter moderner Kulturgeber, der sich für einen solchen auch hält. Nur exportiert er statt Kultur seine eigene Unkultur.
Kaschierter Hass gegen die ‚Russen‘
Jetzt sieht der aufgeklärte Westen auf ‚den Putin‘ herab als das sich inkarnierte Böse schlechthin. Es sind natürlich nicht die Russen, die von den ‚Wessis‘ gehasst werden, es ist der Putin. Der Putin, Putin, Putin und Putin! Er ist nicht nur für jeglichen unpassenden und bösartigen Entwicklungen im Westen verantwortlich, sondern sprengt sogar eigene Gaspipelines (wobei das ja jetzt seitens westlicher Entscheidungsträger der ukrainischen Seite angedreht werden soll, die sich zwar für das Kompliment bedankt, den Vorgang aber abstreitet). Und die Russen hassen natürlich ihren Putin ebenfalls, zumindest die meisten. Das ist doch klar!
Doch in dieser Konzentration auf den Putin als Hassobjekt und der Einschätzung einer anderen Gesellschaft bzw. der Einschätzung ihrer Ansicht gegenüber dem Staatsoberhaupt liegen zwei gravierende Selbstlügen.
Denn 1. ist ‚der Putin‘ bzw. seine Entscheidungen ein kokreativer Projekt zwischen Ost und West. Die letzten 23 Jahre hat Putin nicht im luftleeren Raum oder hinter abgeschotteten Grenzen seines Königreiches gelebt. Er lebte in dem Zusammenhang globaler Geopolitik. Seine Versuche vielfältige Beziehungen zu Westeuropa aufzubauen wurden ganz entschieden in all diesen Jahren nicht in die geostrategische Ausrichtung transatlatischer Bündnisse einbezogen. Es sind einige Aussagen offizieller Vertreter des amerikanischen Exzeptionalismus bekannt (z. B. George Freedman auf dem Council Of Foreign Relations), die ganz explizit die Vermeidung der Zusammenarbeit zwischen Russland und Deutschland bestätigen. Die journalistische, politische, wirtschaftliche und bildungswissenschaftliche Ausrichtung ist eindeutig transatlantisch. ‚Der Putin‘ sollte da rausgehalten werden, während ‚die Russen‘ von Freedman als Arbeitskraft betrachtet werden und die russischen Gebiete gewiss als riesige Rohstofflager. Die vollkommen dreiste westliche Beteiligung vor allem an dem zweiten sogenannten Maidan in der Ukraine überschritt dabei alle Vorstellungsgrenzen westlicher Demokratisch-Imperialistischer Ansprüche (momentan schwellt ein Quasimaidan in Georgien an, während die Präsidentin sich in den USA berät). Man wusste sehr geschickt mit der zuvor beschriebenen postsowjetischen Ambivalenz und den nationalistischen Strömungen umzugehen. Während solche Kritik zu ‚Kremlpropaganda‘ zählte. Es ging ja letztendlich um die Rettung der Menschen, das Ende der Korruption, das Feiern von Menschenrechten und andere westlich-illusorische Blendgranaten psychologischer Kriegsführung und Massenlenkung. In all diesem Geschehen wollte man keine Zusammenarbeit mit Putin, sondern seine stumme Einordnung in die „schöne neue Welt“ westlicher Werte, an die man zumindest in USA nicht mehr glaubt (Stichwort: american dream). Das Produkt dieser ausklammernden und an die Wand drückenden Politik will man aber nicht anerkennen. Zumindest nicht als eine westlich-östliche Kokreation. Dieses Produkt entstand aber ganz nachvollziehbar aus westlicher Ignoranz und exzeptionalistischer Dreistigkeit und dem russischen Selbstverständnis.
Und 2. (was noch deutlich gravierender ist) versteckt sich hinter dem Hass gegen Putin ein kaschierter Hass gegen die Russen bzw. ‚Russen‘ als Postsowjets. Wie der aufgeklärte Herr aus meiner Waldbegegnung kann der aufgeklärte Wessi nicht zugeben, dass die meisten ‚Russen‘ den Putin wirklich gewählt haben. Putin muss dort diesbezüglich nichts manipulieren. Doch diese Option, dass die Mehrheit tatsächlich Putin wählt, ist aus westlicher Sicht gar nicht vorhanden. In dieser Art entsteht ein westliches Märchen über ‚die meisten Russen‘, die den Putin hassen, sich aber einem diktatorischen Regime fügen. Kennt man die postsowjetische Gesellschaft, ist es vollkommen banal, dass die meisten Russen durchaus für Putin sind. Sie mögen hier und dort seine Politik nicht, aber ihre Vorstellung von einem Staatsoberhaupt wird durchaus weitgehend befriedigt (auch wenn Putin mit seiner zaristischen Art zu übertreiben pflegt). Die Antwort auf die Frage „warum Russen Putin wählen“ würde hier den Rahmen sprengen. Diese Frage müsste aber jeder Westeuropäer ernsthaft und unvoreingenommen sich selbst stellen, wenn er denn an einer anderen Kultur interessiert ist. Doch warum will ein derart aufgeklärter Westeuropäer sich nicht mit der gänzlich anderen Gesellschaftsrealität der Russen beschäftigen? Weil hinter dieser Leugnung sich sehr geschickt der alte Hass gegen die ‚Russen‘, die wilden aus dem Osten, die ‚Untermenschen‘, um es mit Himmlers Sprache zu sagen, verstecken kann. Denn wie soll ein Deutscher diese Gedanken, die in einem massiven Konflikt mit seiner Geschichte stehen, sich erlauben? Er kann nicht öffentlich zugeben, dass diese rohen Menschen aus dem Osten, deren ‚Unkultur‘ ihn gar nicht interessiert und er höchstens auf das Inhalieren kitschiger Touristenfloskeln (Matrjoschka, Gastfreundschaft und Co.) aus ist. Wo wäre da die Vorstellung des ‚guten Westens‘? Deswegen ist die Erhaltung des Märchens über den Putin als das allseitig gemeinsame und unakzeptierbare Böse zwischen Ost und West für das westliche moralische Selbstverständnis überlebensnotwendig; ähnlich wie andere Märchen über Demokratie, Wissenschaft und Freiheit.
Der freie und aufgeklärte Westen
Die Selbstbetrachtung westlicher Akteure basiert vor allem auf einem Konstrukt aus Einbildung und Halbbildung (Stichwort: Adorno). Die Einbildung besteht in der weit überholten Annahme – westliche Gesellschaft basiert auf den eben erwähnten ‚westlichen Werten‘. Die sozilogisch kritischen Untersuchungen der letzten 70 Jahre spielen im Westen (wie auch im Osten, aber dort wurden sie nicht ‚geboren‘) keine Rolle. Sie sind eine marginalisierte (für unwichtig erklärte) Erscheinung verstaubter Bücher und komunistischer Wirrköpfe. Die einzigen Felder, wo eine verzweckte Gesellschaftskritik sehr gerne getrieben wird, weil sie eben in das Getriebe der Technokratie gut passt, sind die Kritik am Menschen und seinem Umgang mit Natur, die Kritik an diffusen Nazis (die man neuerdings überall sieht) und die Kritik an dem Geschlechtsverständnis. Eine gewisse Zivilisationskritik, Rassismuskritik und Kritik an der Ungleichheit sind also willkommen. Systemkritik, Machtkritik, Wissenschaftskritik, Medienkritik, also die zentralen Bausteine einer Gesellschaft, werden dagegen sehr gerne in die gut skandierte und orchestrierte Ecke der Verschwörungstheorie gestellt. ‚Der Westen‘ hat sich also lang dekonstruiert, also seine Grundsäulen und Überzeugungen für weitgehend unhaltbar erklärt, gleichzeitig aber ignoriert er dies vollkommen und setzt wahnhaft noch mehr auf die Karte ‚westlicher Werte‘. Auch hier braucht der westliche Mensch diese Illusionen, um sein Selbstverständnis als guter Mensch decken zu können. Das Aufwachen aus diesen Illusionen zu einem dehumanisierten technokratischen Konstrukt verzweckter Macht, geschmückt mit einem Hass für andere Kulturen und Weltanschauungen wäre natürlich unvorstellbar schmerzhaft. Also ist die Einbildung die Lösung für die Selbstsuggestion westlicher Moralapostel.
Diese Einbildung könnte mit Hilfe einer ernsthaften Bildung (vor allem im Sinne des Unterbrechens vom Reiz-Reaktions-Muster) nach und nach erträglich aufgelöst werden. Die westliche Gesellschaft könnte dann ihren Status Quo überdenken und überarbeiten, wohl in der Suche nach einem menschengerechten Humanismus (einen nicht menschengerechten hatten wir bereits). Doch die Entscheidung fällt auf eine Art Halbbildung, die ich an den Begriff von Adorno anlehne. Statt dem ernsten umfassenden Bildungswillen entsteht im Westen (aber natürlich nicht nur) lediglich eine Zweckorientierung, Einengung in ideologische Schranken, Verschleierung kritischer Zusammenhänge und ein Rennen um die bestmögliche Karriere. Durch diesen Schein der Bildung (die Bildungsstrukturen sind ja vorhanden und beschäftigt, aber nicht mit Bildung) entsteht nur eine Illusion der eigenen gebildeten Persönlichkeit, die vor der wirklichen Bildung eher zurückschreckt und sich lieber in der selbstgefälligen Realität der verzweckten Halbbildung wohl fühlt. Aus dieser Halbbildung erwächst aufgrund des Machtstrebens der politische Gestaltungswillen, dem allerdings die Bildung fehlt.
Die westliche Pathologie
So komme ich nicht umhin, diese Problematik als eine Pathologie, als westliche Pathologie zu bezeichnen. Jede Gesellschaft hat, genau wie jede Persönlichkeit, seine Pathologien, an denen sie arbeiten oder sie zelebrieren kann. ‚Der Westen‘ betreibt eine fortwährende Reflexionsvermeidung eigener Strukturen und Zusammenhänge, während er wie gebannt auf offensichtliche Diktaturen, offensichtliche autoritäre Regimes und andere ins Gesicht springende negative Musterbeispiele für Grundschüler starrt. ‚Der Westen‘ zelebriert also seine Pathologie, statt an ihr zu arbeiten. Aus diesem Grund kommt man nicht um den Gedanken herum, dass solche Regimes (z. B. Nordkorea) oder auch einzelne Gruppierungen (z. B. eindeutig identifizierbare Nazis) ihre ganz wichtige Funktion innerhalb der westlichen Gesellschaft haben. Denn solange unübersehbar schlimme Veräußerungen der Gesellschaft existieren, kann der freie Westen weiterhin mit dem Finger zeigen, um dort etwas verändern zu wollen, um dort das Böse zu identifizieren. Solange muss und kann niemand feststellen, dass hier im Westen etwas gewaltig nicht stimmt; dass die Werte, die man stolz und fanatisch verkauft, zusammen mit dem Fingerzeig auf das ‚Böse da draußen‘, lediglich dazu dienen, die eigenen bodenlos düsteren Zusammenhänge zu verschleiern.
Wenn ‚der Westen‘ nicht von seinem überheblichen und ungebildeten Schlaf erwacht, steuern wir auf Verhältnisse zu, die einen dritten Weltkrieg bei Weitem überschatten. Ein wahnhaft schlafwandelnder Kulturgeber der Postmoderne, der dieser ‚Westen‘ eigentlich ist, kann keine Kultur impulsieren, die in eine menschliche Zukunft führt.
In diesem Sinne kann ich meinen Bildungs-Start-Up Kritischer Bildungskreis wärmstens empfehlen. Wer gewillt und fähig ist an dem Projekt zusammen zu arbeiten, ist gerne willkommen. Ernsthafte kritische Bildung ist der erste Schritt aus dem westlichen Schlafwandeln.
Vielen herzlichen Dank für diese intelligente und einsichtige Nachhilfestunde. Leider findet man ja sehr wenig differenzierte Beiträge zu Russland und den Russen.
Interessanterweise treffen sich in der Rohheit die deutsche und russische Seele. Egal wieviel Kultur wir vorgeben zu haben.
Ich glaube ich muss das nicht ausführen – eine einzige Talkrunde mit den Geschwistern Geifer und Krawall und ihrem Monothema „Waffen, Waffen, Waffen“ ohne Rücksicht auf Verluste, einmal wörtlich als Menschenleben im Krieg und einmal als die wirtschaftliche Selbstvernichtung, sollte reichen..
Ja, das ist leider offensichtlich, dass man zu jeweiligen medial hergestellten Narrativen kaum differenzierte kritische Beiträge findet. Höchstens davor oder danach.
Das liegt in der Selbstverständlichkeit der Machtpositionen, die eine entsprechende Öffentlichkeit fördern.
Ich würde nicht sagen, dass die Deutschen eine Rohheit aufweisen. Ihre Problematik liegt wo ganz anders. Es ist der sezierende, kühle Verstand, der (wenn er entmenschlicht wird) fürchterliche Zusammenhänge ganz akribisch herstellen kann (Stichwort: Hannah Arendt und ihre Analysen). Die Deutschen haben ein philosophisches Erbe, welches sie leider nicht aufgegriffen haben und es bisher leider eher pervertiert zum Ausdruck gebracht haben. Es kann sich zwar letztendlich auch als Rohheit darstellen, beim genauen Blick wird man aber einsehen müssen, dass ein Himmler nicht aus Rohheit gehandelt hat, sondern einen unglaublich präziesen Verstand eingesetzt hat, welchem aber jegliche Menschlichkeit gefehlt hat. Die Deutschen (nicht nur, aber gerade sie zentral) haben den Humanismus entgeistigt und somit entmenschlicht.
Die Russen tragen aber wirklich diese gewisse Rohheit vor der man teils zurecht Angst haben kann (auch als Russe).