Verschwörungsglaube und konspirationistisches Denken

Sehr geehrte Redaktion und Vorstand des Soziologiemagazins (https://soziologieblog.hypotheses.org/), ich wende mich hiermit in Form eines polemischen offenen Briefes an Sie – da vermutlich die Öffentichkeit mehr Interesse an diesem Schreiben haben wird als das Soziologiemagazin selbst – und beziehe mich auf Ihr 23. Heft, 2021 „Verschwörungsglaube und konspirationistisches Denken“ (https://soziologieblog.hypotheses.org/files/2021/07/23-Heft.pdf).

Mit Erstaunen musste ich (recht spät) feststellen, dass die Vertreter der Soziologie (zumindest im Bilde Ihrer Zeitschrift) weitgehend als wissenschaftlich akribisch agierende und doch simplifizierende bzw. einseitige ‚Kritiker der Machtkritiker‘ auftreten. Das ist eine ähnlich bittere Ironie wie die brüllenden Linksradikalen, die sich für noch strengere Staatsmaßnahmen, mit einer noch größeren Fremdbestimmung und Bevormundung einsetzen und Parolen wie „wir impfen euch alle!“ brüllen.

Wenn Sie allerdings der Ansicht sind, dass das Virus (https://sozialekunst.eu/2021/09/01/pandemie/) und die daraus wachsende Gefahr von einem absolut totalitärem Charakter ist und nicht als wissenschaftliche Debatte vorhanden sein darf – weil populistisch gesehen bekanntlich 99,9999 % der Wissenschaftler sich immer über eine Agenda einig sind, die aus welchem Grund auch immer, die größte mediale und politische Unterstützung erfährt – dann brauchen Sie erst gar nicht weiter zu lesen. Dann ist die Soziologie lediglich dafür zuständig die herrschenden Ansichten zu stützen und die „Echokammern“ der Anderen zu pathologisieren. Dann gibt es so etwas wie die Kritische Theorie nicht, die stets da den Finger drauf halten will, wo man von einer eindeutigen regierenden Gewissheit predigt und dies mit Verteilung finanzieller Mittel, Lenkung medialer Präsenz, Besetzung der Lehrstühle, der Vorstände der Fachzeitschriften und anderer machtrelevanter Positionen und so weiter verschleiert. Doch ich kann mir nicht vorstellen, dass gerade gebildeten Soziologen (und selbstverständlich auch anderen denkenden Menschen) der Umstand des globalen Neoliberalismus und seine massive Lenkung der Wissenschaft und Politik unbekannt sein soll und man dies ernsthaft unter ‚Verschwörungsglaube‘ subsumieren kann.

In Anbetracht der Tatsache, dass die Soziologie im Grunde aus der Machtkritik entstanden ist, mutet es einem allerdings arg seltsam an, wenn ihre Vertreter tendenziell in das gleiche undifferenzierte mediale Rohr totalitärer Hilfskonstrukte blasen und die eigenen Studenten derart konform erziehen, wie die Medien und die politischen Schauspieler ihre humankapitalistische Verfügungsmasse ‚Mensch‘ selbst kneten. Wenn das die Praxis universitärer Bildung ist, ist es mir nicht verwunderlich, dass daraus ‚Wissenschaftler‘ geformt werden, die von Fakten und wissenschaftlicher Objektivität reden, spottende (shit)content-creator-Videos im Stil von MaiLab smart und kaffetrinkend hinrotzen (verzeihen Sie mir die vulgäre Ausdrucksweise, ich wollte sehr nah an objektiven Fakten bleiben) und damit Massen bewegen. Dann wird ironischerweise ‚die Wissenschaft‘ bald die katholische Kirche einholen und überholen. Gerade die Soziologie ist jedoch dafür zuständig diesem Dogmatisierungsprozess mit totalitären Anmaßungen im Wege zu stehen.

Hier sind es die Verschwörungstheoretiker, LEUGNER, (Impf)Verweigerer, Gefährder, Versteher (des ‚Falschen‘), Mythiker, Gläubige und sonstig diskreditierte „faktenferne“ (Merklisch), wissenschaftsferne, pathologische, asoziale, egoistische Gesellschaftselemente, „die uns Sorgen bereiten“ (Merklisch). Man diagnostiziert ihnen „Echokammern“, pathologisiert sie „frei [sehr frei!] nach Adorno“ als [in dem Sinne rechtsradikale] „Wundmale der Postdemokratie“ und erwähnt nebenbei (natürlich lediglich im beschreibenden Sinne sozialer Realität) „den vorläufigen Höhepunkt eines demokratiezersetzenden ‚postfaktischen Zeitalters'“.

Dort sind die Fakten, ist die Demokratie, die professionelle und vertrauenswürdige Presse, die Wissenschaft, die Objektivität und ja, die Wahrheit, die von der medial geförderten Regierung geradezu missionarisch auf allen Kanälen gepredigt wird. Söder ruft „die Woche der Wahrheit“ aus, beinahe alle Politmächtigen appellieren inflationär an die Wahrheit, an die Fakten, an die (instrumentelle?) Vernunft und an das drohende postfaktische Zeitalter. Sie bauen ‚Faktenchecker‘ mit finanzieller und strukturell-organisatorischer Hilfe von überwachungskapitalitischen (Shoshana Zuboff 2018) Techkonzernen und sonstigen ‚Philanthropen‘ und Regierungsorganen auf, um selbstverständlich die WAHRHEIT ans Licht zu führen und diese gegen die Wahrheitszersetzer zu verteidigen. Die Mächtigen sind plötzlich echte Philanthropen voller strebender selbstloser Erkenntnis geworden, die durch das Postfaktische der Anderen bedroht werden. Die (kapitalmächtigsten) Täter (technokratische Wirtschafts- und Politakteure) werden in einem filmreifen medial-politischen Schauspiel plötzlich zu einem noblen Opfer ihrer bis zur recht fortgeschrittenen Dehumanisierung getriebenen humanen Verfügungsmasse. Doch bereits das Reden über ‚die Mächtigen‘ diskreditiert einen derart, dass man trotz soziologischer Elitenforschung nicht mehr ernst genommen werden kann. Hat die Soziologie nichts zur derart fortgeschrittener Verschleierung der Machtzentren und nach unten transportierter Legitimierung, Aufrechterhaltug und Reproduktion eines naiven Untertanengeistes in der Tradition katholischer Sonntagsschulen beizutragen? Dann haben wir eine vollkommen impotente Soziologie!

Wäre diese Lage nicht derart haarsträubend, dass man sich wundern muss, wie ein wissenschaftlich gebildeter Mensch überhaupt von ‚wissenschaftlichen Fakten‘, die über allem stehen, reden kann, wenn er doch weiß, dass die wissenschaftliche Gemeinschaft NIEMALS einen Anspruch an die Objektivität hat, NIEMALS Fakten produziert, sich NIEMALS zur Politik verunstaltet und STETS am kritischen Diskurs interessiert ist (es sei denn, sie tritt als Verlängerung außerwissenschaftlicher Absichten auf)… dann könnte man bei dieser Situationskomik eine wirklich lange Zeit mit Lachen verbringen. Doch das Lachen bleibt einem bereits eine recht lange Zeit vor Entsetzen im Halse stecken.

Es ist Ihnen gewiss noch deutlich besser wie mir bekannt, dass die Soziologie der letzten 70 Jahre recht wenig Freude an schönmalerischer ‚Demokratie, Pressefreiheit, freier Gesellschaft‘ und so weiter hatte. Die Kritik an diesen bunten Fassaden ist spätestens seit Bourdieu, Adorno, Horkheimer und Co. bekannt. Machtstrukturanalyse, Elitenforschung und andere Gebiete der Soziologie haben bis zur Gegenwart mehr als deutlich gezeigt, dass ‚die Macht‘ nun mal ganz zentral in der stetigen kritischen Betrachtung der Bürger stehen muss, wenn sie nicht totalitär werden soll. Das Ganze kann bei Bedarf (und Zeit) mit vielen Zitaten und einigen wissenschaftlichen Analysen untermauert werden, aber ich vermute, diese Inhalte dürften Ihnen recht bekannt sein. Wer heute von einer Postdemokratie spricht, die von „Querdenkern“ und „Coronaleugnern“ als Drohkulisse vor die wahre Demokratie geschoben wird, muss geisteskrank, naiv unwissend oder von einer Verschleierungsabsicht geleitet sein. Es verhält sich damit ähnlich wie mit denjenigen, die die Gründe für die Wirtschaftskrise oder die 4. industrielle Revolution in einer seelenloser Selbstverständlichkeit ‚dem Virus‘ zuschieben. Die ‚Demokratie‘ als eine Legitimierungsshow medial zubereiteter Politakteure, die technokratisch-wirtschaftliche (überwachungskapitalistische) Interessen realisieren und ihre ‚Wähler‘ in einem Bedeutungsschein politischer Partizipation, bei gleichzeitiger Entkoppelung von beinahe allen, lang global gewordenen strukturrelevanten Bereichen halten… diese ‚Demokratie‘ dürfte der Soziologie lange als Postdemokratie bekannt sein.

Ja, Ihr Heft erwähnt am Rande die durchaus vorhandene Legitimität einer hier und dort vermuteten Verschwörung (Alan Schink). Bei Sebastian Klimasch kommt die Erwähnung von dem Kampf zwischen orthodoxem und heterodoxem Wissen, allerdings gleichzeitig mit der Verschwörungstheorie als einer individuellen Krisenbewältigungsstrategie. Als ob das missbrauchte und sich gerne aufgrund der Bequemlichkeit und dem Wohlstand missbrauchende Humankapital, die Verfügungsmasse des Verhaltensüberschusses (Zuboff 2018), schlicht (am besten sich selbst) zu therapieren wäre. Als ob diese ‚Verschwörungstheoretiker‘, wie psychisch Kranke in der Geschlossenen, lediglich in einem sozialen Vakuum liegende, entkontextualisierte Krisen bewältigen müssen, die sich systemisch in einem abstrakten ‚Gesellschaftsaushandlungsprozess‘ halt so ergeben (so ganz ohne der Machtebene). Doch in Anbetracht der überwältigenden Masse von an eine Agenda grenzender restlicher Inhalte Ihres Heftes, kann man auch bei diesen Beiträgen in der vorgegebenen Denkspur bleiben. Wann werden die Akteure und Machtzentren soziologisch kritisch betrachtet, die sich auf der Seite der Fakten und der Seite der Demokratie sehen? Wann greift die Soziologie selbst die nötige Machtkritik auf? Oder will sie lediglich in der selbstverständlich unprofessionellen, unreflektierten, affektiven Machtkritik frustrierter Massen baden, qAnon, Hildmann, flache-Erde- und Reptiloiden-Anhänger durch den Dreck ziehen und darin pathologisierende Tendenzen herausdestillieren, um dem Narrativ und sich selbst zu gefallen? Wann erleben wir eine potente Soziologie, die nicht zusammen mit Psychologie einen Verschwörungsglauben der Untertanen untersucht, sondern ihren bitter nötigen gesellschaftskritischen Wurzeln gerecht wird?


Als ich bei meiner Vermieterin das Vergnügen hatte ein Radio zu reparieren, kam ich nicht umhin, mir die allgemein bekannten laufenden Sender anzuhören. Gefühlt im Minutentakt wurde dort in einer recht amüsanten lockeren Art von einer wissenschaftsleugnenden, egoistischen Minderheit der Coronaleugner, Verschwörungstheoretiker, Impfverweigerer und Nazis geredet, die die von der Regierung (und eben diesen 99,9999 % der Wissenschaftler) verbreiteten FAKTEN schlicht ignorieren und sich rücksichtslos auf den Straßen mit Fakeln tummeln. Gewiss hätte ich im gleichen Moment eine ähnliche Erfahrung bei der Tagesschau oder beim Lesen zahlreicher Qualitätspresseartikel machen können. Einen sehr ähnlichen Beigeschmack hat leider auch Ihr Heft über den Verschwörungsglauben. Das ist ein Beigeschmack aufstrebender totalitärer Regimes, die sich durch die Pathologisierung, Delegitimierung, Diskreditierung Andersdenkender ihnen überhaupt das Denken und ein vernunftgeleitetes Agieren absprechen wollen; die die Menschen auf ihre der Agenda unpassende Einstellung reduzieren und dadurch beinahe entmenschlichen, sie zu bloßen Gefährdern und Terroristen machen!

Doch DIESE „Echokammer extrem“ ist scheinbar im soziologischen Gefilde nicht vorhanden. Es gibt keine Tagesschau, die fortwährend das Narrativ der Regierung predigt und Whataboutismus in Richtung autoritärer Staaten betreibt. Es gibt keine „smart city charta“ (https://www.smart-city-dialog.de/wp-content/uploads/2019/12/smart-city-charta-langfassung.pdf) der Bundesregierung, die ernsthaft ganz offen auf der Seite 43 von „post-choice, post-ownership, post-voting society“ spricht und Sätze wie „Da wir genau wissen, was Leute tun und möchten, gibt es weniger Bedarf an Wahlen“ von sich gibt (Edit11/2024: die Langfassung wurde mittlerweile entfernt und ist schwer zu finden. Der obige Link funktioniert demnach nicht, aber freundlicherweise habe ich die Langfassung gespeichert: Langfassung-Smart-City-Charta-2017.pdf). Es gibt keine Studie zur „Zukunft von Wertvorstellungen der Menschen in unserem Land“ (https://archive.org/details/BMBF_Foresight_Wertestudie_Langfassung.pdf), welche die solidarische und kollektivistische Gesellschaft voller Zusammenhalt herinterpretiert (die bisher nur negativ in den östlichen Kulturen Erwähnung fand) und beiläufig das haarsträubende behavioristische chinesische Sozialpunkte-System (social credit system) als eine mögliche Entwicklungsalternative bzw. als eine von sechs „plausibilisierten Beschreibungen möglicher Zukünfte“ im Stile eines Yuval Noah Harari lediglich als reale Möglichkeit schmackhaft beschreibt. So als ob in der politischen Impfdebatte nicht bereits das gleiche Narrativ (bishin zum Führerscheinentzug, Tankverbot, Verbot der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel) angeklungen ist. Es gibt keine minderwertige, plumpe Propaganda, die aus den Abflussrohren regierungsnaher und privatwirtschaftlicher Unternehmen und Institutionen über die Menschenmassen ergossen wird! So etwas gibt es nur in Russland, in Trumps USA oder sonst wo, aber doch nicht im aufgeklärten Deutschland! Bei uns ist schlicht alles eine professionelle, differenzierte, allseitige Berichterstattung faktentreuer, aufrichtiger und sozialer Übermenschen, die man gerne mit einem „na, es ist halt nicht alles perfekt, aber besser als dort“ selbstgefällig relativiert und gerne noch mit einem „na dann geh halt wo anders hin“ ergänzt!

Nein, autoritär sind nur die Anderen! Die mit dem brachialen Regime einer mehr oder weniger offensichtlichen Gewalt! Wir bauen eine smarte, solidarische Welt der unsichtbaren „instrumentären Macht“ eines „Big Other„, die uns „Gewissheit ohne Terror“, „Gleichwertigkeit ohne Gleichberechtigung“, maßlose Mittel zur „Verhaltensmodifikation“ verschafft (Zuboff 2018, S. 437-439) und hatespeechen und hetzen währenddessen gegen diejenigen, die auch nur annähernd auf ein Machtproblem der Regierenden hindeuten wollen. Sie sind für uns bloß ein Blinddarm (Bosetti), den man getrost abschneiden kann; der nicht gegen uns ‚hatespeechen‘ (uns kritisieren) darf, während wir ihn mit Gülle übergießen. Wir wollen Skinners „Walden Two“, nicht Orwells „1984“ und reden gleichzeitig innerhalb der Bildungswissenschaft davon, dass der Behaviorismus überwunden ist. Wir brauchen die Gegenwart gar nicht mit der unvergleichbaren Macht der Vergangenheit, mit „Terror, Mord, Massaker, Vertreibung oder … Aufhebung demokratischer Institutionen“ vergleichen, wir bauen eine effizientere „instrumentäre Macht“ auf, die „stattdessen kraft Deklaration, Selbstermächtigung, rhetorischer Irreführung, Euphemismen und ebenso dreister wie stiller Operationen hinter den Kulissen“ durchregiert (Zuboff 2018, S. 443). „Aber was hat schon Überwachungskapitalismus von Shoshana Zuboff mit Corona zu tun?! Das ist doch aus dem Kontext gerissen!!“, höre ich schon die Stimmen brüllen.

Wir verstehen nicht viel von dieser Entwicklung, aber sie ist gut, sie ist großartig! Sie wird uns nach faktischen, objektiven (natürlich nicht dogmatischen) technokratischen Prinzipien gegen alle antiaufklärerischen Ungeister verteidigen und in die glorreiche Zukunft trans- und posthumanistischer Dehumanisierung, nein, sozialer Verklärung führen!

Herzliche Grüße
Aliaksandr Kavaliou

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