Bevor es dem Kant an den Kragen geht, muss ich gestehen, dass folgende Gedanken nicht von mir ‚erfunden‘ worden sind. Sie stehen in dem Buch „Wahrheit und Wissenschaft – Vorspiel einer ‚Philosophie der Freiheit'“ (1925, S. 10-52). Dieses Buch wurde als Disserationsarbeit von Rudolf Steiner 1892 veröffentlicht. Wenn man allerdings die dargestellten Ideen und Zusammenhänge selbst durchdenkt und auch begreift, so kann man zumindest den begriffenen Teil nicht als etwas Übernommenes hinstellen. Bei einem ernsthaft reflektierten und eigenständigen, also selbst umgesetzten Denkprozess über die jeweiligen Inhalte kann der Mensch zu nichts Anderem kommen, als zu eigenständig gebildeten Gedanken. Seien diese von einem anderen Menschen angeregt, bilden sie dennoch etwas, was über das Individuelle hinausgeht. Letztendlich können auch zwei Menschen auf selbe Ideen kommen. Die Welt der Ideen ist bei genügender Reflexion demnach eine überpersönliche geistige Realität, welche durch einzelne Individualitäten durchdrungen werden kann.
Dies setze ich dem nachfolgenden Text nicht deswegen voraus, um lediglich auf die Ursprungsgedanken Steiners hinzuweisen oder mich von ihm im Gegenteil zu distanzieren, sondern um auf die praktische Bedeutung nachfolgender Gedanken aufmerksam zu machen. Wer diese oder andere gedanklichen Zusammenhänge bloß liest, um Informationen anzureichern oder schnelle Kritik folgen zu lassen, anstatt zu versuchen sie vorerst als eigene Gedankenprozesse zu realisieren, kommt nicht an die gewaltige Tragweite folgender Inhalte heran. Erst wer sich im Zweiteren übt, kann den praktischen Teil dieser theoretisch erscheinender Inhalte erleben.
Der erste Teil dieses Dreiteilers beschäftigte sich mit der praktischen Bedeutung der Erkenntnistheorie und dem Missverständnis über die angebliche Vormachtstellung der Praxis gegenüber der Theorie. Darin klang bereits die ganz praktische Wichtigkeit des Denkens und der Ideenbildung an. In diesem zweiten Teil soll es um den relativen Status Quo der Erkenntnistheorie gehen, die als Basiswissenschaft den kompletten Wissenschaftsbereich bestimmt. Den gesamten Status Quo mit all seinen Facetten gedanklich abzubilden würde mehrere Bücher füllen müssen und meine Beschäftigung damit für einige Jahre daran binden. Außerdem würde es von den aus meiner Sicht sehr entscheidenen Punkten der bisher geltenden Dogmatik ablenken und die Tragweite dieser verdecken. In diesem relativen Status Quo meine ich die immer noch geltende Essenz der Erkenntnistheorie mit ihren Erkenntnis unterdrückenden Aspekten abzubilden. Wir tauchen hier also recht tief in die Philosophie hinein, um zu verstehen, was unserer gesamten Wissenschaft und alltäglichen Erkenntnis zur Grundlage gelegt wurde und wohin es uns geführt hat.
Drei Kantsche Dogmen
Immanuel Kant versuchte „die Passung zwischen subjektiven Erkenntnisstrukturen und objektiven Strukturen (der Realität) zu erklären“ (G. Vollmer, Was können wir wissen, Band 1, 1988, S. 24). Für ihn gab es unweigerlich das objektive „Ding an sich“ und unsere Unzulänglichkeit im Erkennen dieses Dinges. Die daraus hervorgehende erkenntnistheoretische Grundfrage von Kant (Kritik der reinen Vernunft, 1781) wurde von Steiner folgendermaßen zusammengefasst: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?
Synthetische Urteile = Erfahrungsurteile. Das sind Urteile, welche sich nicht ausnahmslos aus dem einen einzigen Gegenstand/Begriff ergeben, sondern die durch Erfahrung mit diesen Gegenständen gebildet werden können. Zum Beispiel: die meisten Schwäne sind weiss. Schwäne haben Flügel wäre ein analytisches Urteil, da es voll und ganz durch den Begriff des Schwans bedingt ist. Man müsste also um ein synthetisches Urteil zu treffen viele Schwäne gesehen haben, beim analytischen Urteil reicht allein der Begriff „Schwan“.
A priori = vor jeder Erfahrung. Etwas, was also vor dem Eintreffen jeglicher Erfahrung gegeben sein soll.
Kant will also in seiner Grundfrage wissen, wie Urteile, welche auf Erfahrung basieren, ohne jeglicher Erfahrung gefällt werden können. Darauf baut er seine sehr intelligenten Gedanken auf und begründet somit seine Erkenntnistheorie, die weiterhin in ihren zentralen Wesenszügen unsere Gesellschaft beherrscht.
Doch eine Erkenntnistheorie muss auf einer möglichst vollkommenen Voraussetzungslosigkeit basieren. Es dürfen bei einer Erkenntnistheorie keine Voraussetzungen gefällt werden, auf die sich diese Theorie stützen will. Diese Voraussetzungen würden bereits innerhalb des Erkennens liegen und können nicht als Grundlage für eine Theorie des Erkennens gelten. Auch wenn es absurd klingen mag (man muss ja irgendwas voraussetzen!), hat diese Tatsache eine entscheidende Bedeutung für das mögliche Zutreffen einer Theorie in Bezug auf ihre Wirklichkeit.
Leider reflektierte Kant genau diesen Punkt seiner Erkenntnistheorie nicht genügend, so dass er sich auf zwei Voraussetzungen, die ich hier Dogmen nenne (weil sie ohne einer Reflexionstätigkeit schlicht vorausgesetzt wurden), stützte. Das Wissenssystem von Kant braucht A: nicht primär zum Subjekt gehörige Eigenschaften (synthetische Urteile, Erfahrungsurteile) und B: diese Urteile müssen unabhängig aller Erfahrung gewonnen werden (a priori). Daraus ergeben sich zwei Dogmen: 1. Erfahrungswissen hat nur bedingte Gültigkeit und 2. Es gibt einen Weg, um zu Erkenntnissen zu gelangen, der frei von Erfahrung ist.
Der große Philosoph hat hier die Vorurteile der dogmatischen Philosophie schlicht übernommen und suchte lediglich nach Bedingungen ihrer Gültigkeit! Seine Erkenntnistheorie und alles, was sich darauf direkt oder indirekt stützt, hat mit Erkenntnis also wenig zu tun.
Doch Kant geht weiter. Er definiert 3. die Mathematik und Naturwissenschaften als a-priori-Wissenschaften (erfahrungsunabhängig) ohne dafür einen Beweis zu liefern. Dieses per se gegebene Wissen steht dem „Ding an sich“ gegenüber, während der Mensch lediglich im Stande ist durch apriorische Theorien (aus der Mathematik und Naturwissenschaft) sein subjektives Empfindungsmaterial durch formale Wahrheiten zu ordnen. Diese formale Wahrheiten sind dann die von Kant gesuchten synthetischen Urteile a priori. Es gibt also die Vorstellungen über die Dinge (subjektives Erleben) und das „Ding das sich“ (Wirkung der Umwelt). Der Mensch lebt aber zwangsläufig NUR in seiner Vorstellungswelt und kann dieses „Ding an sich“ nicht mit seiner Erkenntnis berühren.
Stellvertretend für die gesamte Erkenntnistheorie Kants und einige darauffolgende Werke anderer Philosophen können hier folgende Sätze von Steiner wiedergegeben werden: „Der transzendentale Idealismus erweist seine Richtigkeit, indem er mit den Mitteln des naiven Realismus, dessen Widerlegung er anstrebt, operiert. Er ist berechtigt, wenn der naive Realismus falsch ist; aber die Falschheit wird nur mit Hilfe der falschen Ansicht selbst bewiesen“ (S. 27). Der Satz mag kryptisch anmuten, aber der Sinn dahinter ist sehr zutreffend: Die Ansicht A, dass die ganze Welt lediglich aus unserem Bewusstsein besteht beweist sich selbst, indem sie zu der Ansicht B greift, dass es eine außer uns gegebene, objektive Welt existiert. Diese Ansicht A ist aber richtig, nur wenn die Ansicht B falsch ist. Die Falschheit von B beweist aber die Ansicht A lediglich mit der Ansicht B selbst. Es lohnt sich diese Absurdität gedanklich wirklich zu fassen! Ich würde also beweisen, dass die Welt lediglich meine Vorstellung ist, indem ich eine Welt außerhalb meiner Vorstellung annehme und gleichzeig sage, dass es sie nicht gibt, indem ich mich auf ihre Existenz beziehe.
Folgen für die gesellschaftliche Realität
Demnach ist der Mensch beschränkt in seiner Erkenntnis, gefangen in subjektiven Erfahrungen, unfähig „das Ding an sich“ wirklich zu ergründen. Alles, was er hat, sind nur seine Vorstellungen. Ganz im kirchlich dogmatischen Sinne wird hier dem Menschen eine geistige Entwicklungsgrenze gesetzt (Stichwort: unergründbarer ‚Gott‘, Zugang lediglich zu Körper und Seele, Geist ist dem ‚Gott‘ vorbehalten).
Was bleibt in solch einem realitätsbildenden Gedankenkonstrukt? Die Wissenschaft und die Erkenntnis wird verzweckt, auf den Nutzen reduziert und der Mensch wird ökonomisiert (human resources). Psychologisch endet das Menschenbild in radikal konstruktivistischen und kybernetischen Ansätzen, die ihn als eine abgeschottete Einheit betrachten, die einer Dressur unterliegen muss (Stichwort: Telemetrie/Datensammlung + Telestimulation). Und letztendlich blüht die verzerrte Frucht des Trans- und Posthumanismus auf, welche den beschränkten Menschen überwinden will. Technokratische Logiken scheinen in solch einem geistlosen Gedankenkonstrukt ganz folgerichtig zu sein. Wir erleiden in unserer Gesellschaft lediglich die Folgen unserer ungeistigen Einstellung.
Die Tragweite Kantscher Dogmatik auf die darauffolgende gesellschaftliche Entwicklung müsste noch gezielt wissenschaftlich untersucht werden!
Ausblick
Wir brauchen also eine neue Erkenntnistheorie! Eine Erkenntnistheorie, welche dem menschlichen Wesen gerecht wird, welche die geistig-seelische Realität, innerhalb derer die Erkenntnis stattfindet, realisiert und gedanklich fasst. Erst darauf können Wissenschaften und Gedanken reifen, die uns und unsere Gesellschaft, ob in Bezug auf Erziehungs- und Bildungsansichten, Geschlechterfragen, Klimaprobleme und Friedensvorstellungen oder sonstige Lebensbereiche, dem Menschlichen wirklich näher bringen.
Wie Fische im Wasser schwimmen wir in dem Sumpf der verkehrten also fehlenden Erkenntnis und begrenzen uns selbst, ohne das zur Gewohnheit gewordene sumpfige Wasser um uns herum zu merken. Wir sind so in der Praxis gefangen, dass uns die ‚theoretische Welt‘ der Gedanken nicht mehr wirklich interessiert. Ihre entscheidende Bedeutung spüren wir nicht mehr. Die damit verbundene geistige Anstrengung steht gegenüber der empfundenen Sinnlosigkeit in Bezug auf den bloßen Versuch das Denken ins Zentrum unserer Existenz zu stellen. Das Denken interessiert uns nur als verzweckte Intelligenz, die technologische Effizienz vorantreibt, oder als bloße Pragmatik, aber nicht mehr als die wirkliche Erkenntniskraft, die uns etwas über das Wesen der Welt offenbaren kann. Das Gefühl und die damit verbundene Befriedigung wird von Juval Noah Harari bis zur ganzen New Age Bewegung als das Höhere verkauft. Dass das Denken dem Gefühl überhaupt die eigentliche Menschlichkeit verleiht, entgleitet unserem Verständnis. Wir haben uns zu Tieren degradiert und wollen Tiere werden. Wenn wir zum Menschlichen hin wollen, müssen wir unser Erkennen im eigenen Alltagsleben, wie auch in der Sicht auf die Wissenschaften neu ergreifen.
Der letzte Teil dieser Reihe wird eine solche Erkenntnistheorie, die von Rudolf Steiner in dem erwähnten Buch vorgelegt worden ist, darstellen. Mir ist keine andere bekannt, die die gleiche Voraussetzungslosigkeit, Schlichtheit und Gedankenschärfe aufweist.